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»VOLLENDE DIE WENDE«

Deutschland ist nach 1945 zu keinem Zeitpunkt souverän geworden. Die sogenannte »Wiedervereinigung« 1990 wäre eine Chance gewesen. Über den Verfassungsputsch in der DDR vom 17. Juni 1990 und seine Folgen schreibt Dr. Yana Milev.

Von Dr. Yana Milev

© Bild: Gerd Danigel
© Bild: Gerd Danigel

Was einen Staat legitimiert, ist nach Georg Jelinek seine Pflicht der Kontrolle und der Kuratierung gegenüber Staatsgebiet (Territorium/Grenzen), Staatsvolk (Bevölkerung) und Staatsgewalt (klassische Gewalten wie Judikative, Exekutive, Legislative, sowie die postklassischen Gewalten der Mediokratie und des Lobbyismus). Für diese Staatspflicht, die den Staat legitimiert, steht normalerweise eine Verfassung. Deutschland hat weder das Eine noch das Andere, weder Verfassung, noch begrenztes Territorium, noch einen basisdemokratisch ausgehandelten Gesellschaftsvertrag – einen Vertrag mit dem Volonté générale, dem Gemeinwillen.


DIE DDR WAR IM UNTERSCHIED

ZUR BRD EIN VERFASSUNGSSTAAT


Die DDR war ein Verfassungsstaat, was man von der BRD nicht behaupten kann. Die DDR-Bürger hatten bis zur Annexion der DDR durch die BRD und schließlich bis zu dem Verfassungsputsch am 17. Juni 1990 in der Verfassung (revidierte Verfassung von 1974) festgelegte Rechte. Diese Rechte entsprechen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Wenngleich auch einige in dieser Verfassung niedergeschriebene Artikel in der DDR eingeschränkt waren, so sind es jene acht Artikel die bis zum Ende der alten DDR im Dezember 1989 Gültigkeit behielten

1.Recht auf Bildung, Art. 25

2.Recht auf Freizeit und Erholung, Art. 34

3.Recht auf Schutz seiner Gesundheit und seiner Arbeitskraft, Art. 35

4.Ehe, Familie und Mutterschaft stehen unter dem besonderen Schutz des Staates, Art. 38

5.Recht auf Arbeit, Art. 24

6.Alle Bürger sind vor dem Gesetz gleich, Art. 20

7.Gleichberechtigung von Mann und Frau, Art. 20

8.Recht auf Wohnen, Art. 37


Diese Grundrechte der DDR-Bürger beriefen sich unter anderem auf die Regierungsversprechen der DDR von 1949: »Nie wieder Hunger, nie wieder Obdachlosigkeit, nie wieder Arbeitslosigkeit!«. Der DDR-Staat hielt bei allen Komplikationen und Missständen über 40 Jahre an diesen Regierungsversprechen fest, ohne sie zu stürzen. Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und Hunger, soziale Missstände mit denen DDR-Bürger ab 1990 in der BRD massiv konfrontiert wurden, gab es in der DDR praktisch nicht.

Das Besondere an der DDR-Verfassung, wie sie bis Ende 1989 existierte, sowie auch in der neuen DDR-Verfassung der Reformbewegung von 1989/90, war ihr Bekenntnis zu einem Gesellschaftsvertrag, zu einem Volonté générale, der nicht nur Rechte hat, sondern auch Pflichten kennt. Die DDR war ein Staat, in dem der Parlamentarismus als historisch überwunden galt. Und das zu gutem Recht. Das Parlament ist ein Zirkus der Parteien, die jeweils unter eigenen Bedingung durch den Einfluss von Gewalten, wie Medien und Lobbyismus, kontrolliert werden. Also von Mehrheitsmeinungen, die sich aus Einzelmeinungen zusammensetzen. Aus Einzelinteressen. Diese Mehrheitsmeinung nennt sich nach Jean-Jacques Rosseau, dem Mastermind der modernen Demokratie, Volenté de tous und ist nicht identisch mit dem Volonté générale, dem Gemeinwillen, der Basisdemokratie.


DEUTSCHLAND IST NACH 1945 ZU KEINEM ZEITPUNKT

SOUVERÄN GEWORDEN, AUCH NACH 1990 NICHT


Derartige Grundrechte wie in der DDR-Verfassung sind auch im Grundgesetz der BRD verankert. Allerdings ist das Grundgesetz der BRD von 1949 ein Provisorium so lange bis alle Deutsche der Einberufung einer verfassunggebenden Verfassung zustimmen, zur Verfassungsgründung und damit auch zur Staatsgründung, da sich ein Staat nur aufgrund seiner Verfassung legitimiert. Dieser Umstand, dass sich Deutschland als Ganzes seit 1945 keine Verfassung gegeben hat, macht Deutschland seit 1945 zur fremdbestimmten Zone, in der eine verfassungsgebundene staatliche Legitimität, die durch einen Volkssouverän, eine Basisdemokratie kontrolliert wird, nicht vorhanden ist. Daran hat auch der »Zwei-plus-Vier«-Vertrag nichts geändert.

Gern spricht die deutsche Regierung davon, dass Deutschland mit »Zwei-plus-Vier« souverän geworden sei. Dann aber hätte der Staat die Pflicht, Friedensverträge mit den europäischen Nachbarstaaten einzugehen, was Deutschland bis heute nicht getan hat. Der »Zwei-plus-Vier«-Vertrag war ein Businessplan, nach dem die Sowjets aus dem Gebiet der DDR mit Mann und Gerät bis 1994 abrückten. Die Westalliierten indes blieben. Erst 2020 rückten die Briten aufgrund des Brexit nach und zogen ihre Streitkräfte aus Deutschland ab. Damit hat wenigstens eine Kontrollmacht der Westalliierten die Bedingungen des «Zwei-plus-Vier»-Vertrags erfüllt.

Dass die im Grundgesetz der BRD verankerten Elemente einer freiheitlich demokratischen Grundordnung, wie dem »Recht auf freie Meinungsäußerung« Artikel 5, das Bekenntnis, dass »Zensur nicht stattfindet« oder dass »Kunst, Wissenschaft, Forschung und Lehre frei sind«, oder die in Artikel 18 aufgeführten Grundrechte, allesamt Gummiparagraphen sind, zeigte sich vor allem in den letzten 15 Monaten, in denen Protestierende gegen die Pandemie-Maßnahmen kriminalisiert wurden, indem Andersdenkende in den »sozialen Medien« zensiert und ausgeschlossen wurden, indem die freie Lehre und Forschung marginalisiert wurde, indem Wähler sich am Ende doch wieder einer Mehrheitspolitik – mit anderen Worten einer Dominanzpolitik des CDU-Regimes – unterworfen sehen. Denn wer bestimmt, dass oder ob die Grundordnung durch freie Meinungsäusserung, durch freie Forschung und Lehre, missbraucht wird (Art. 18)? Wer bestimmt, aus welchem Grund Versammlungen unter freiem Himmel der Grundordnung widersprechen?

Dies kann alleine nur der Volenté de tous bestimmen, eine Parteiendominanz oder ein Parteienverbund (Koalition), die durch entsprechende Gewaltenkontrolle wie Medien und Lobbyismus das Mandat dazu erhalten. So etwas ist nur in einer Regierungsform möglich, wo der Volonté générale, der Gemeinwille, in der Verfassung nicht verankert ist – alleine schon, weil es diese Verfassung gar nicht gibt, da das deutsche Grundgesetz ein Provisorium ist.


DER VERFASSUNGSPUTSCH IN DER DDR AM 17. JUNI 1990


Die Einmischung in die inneren Angelegenheiten war völkerrechtswidrig, denn das Bonner Kabinett trug seinen Wahlkampf in die DDR. Von langer Hand gründeten Helmut Kohl und Volker Rühe das Wahlkampfbündnis »Allianz für Deutschland« in Westberlin, dem allerdings DDR-Politiker wie de Maizière, Schnur und Ebeling vorstanden. Dieses Wahlkampfbündnis wurde als Wahlkampf-Booster des Kohl-Kabinetts in der DDR eingesetzt. Gewunken wurde mit der D-Mark zum Preis des schnellen Anschlusses an die BRD nach Art. 23 GG. Am 13. März 1990 wurde die DDR-Reformbewegung gestürzt. Mit der so genannten »ersten freien Volkskammer-Wahl« verschaffte sich die janusköpfige West-Ost-CDU einen deutlichen Vorsprung. Gewählt wurde Helmut Kohls D-Mark über dem Plakatgesicht Lothar de Maizières. Damit war die DDR Geschichte.

In der Volkskammer saß nun eine Marionettenregierung von Kohls Gnaden, die einen Verfassungsputsch lancierte. Am 17. Juni 1990, auf den Tag genau, den die BRD seit 1953 als »Tag der Einheit« mit einem Nationalfeiertag begeht, wurde die DDR-Verfassung mit dem Verfassungsgrundsätzegesetz in der Volkskammer suspendiert. Bis zum 3. Oktober 1990 war die DDR restlos annektiert, vollstreckt, beschlagnahmt und entkoppelt. Was die Menschen am 13. März 1990 wählten, durften sie dann am 3. Oktober im Einigungsvertrag nachlesen. Gefeiert wurden nun Opfer und Dissidenten des »SED-Regimes«, gejagt wurden alle Mitglieder der SED, mit oder ohne IM-Hintergrund, einschließlich der Mitglieder der SED-Reformbewegung.

Gehandelt wird dieses Event bis heute als »Wahl mit den Füßen« für einen schnellen »Beitritt«. Ganze Behörden wurde horrend subventioniert, um eine Assimilationspolitik, eine Politik der »demokratischen Säuberung«, die ein »verordnetes Vergessen« zum Ziel hat, in der Post-DDR wirksam werden zu lassen. Dazu gehört selbstverständlich, dass die 1989 geforderte »Presse- und Meinungsfreiheit« keinen Tag für DDR-Bürger, später Neubürger, galt. Der Begriff »Beitritt« gehört in das Begriffsarsenal der politischen Bildung seit 1990. Damit wird eine Annexions-politik betrieben seit Adenauer und Erhard, ein Verfassungsputsch, eine völkerrechtswidrige Sukzession und eine erinnerungskulturelle Liquidation im Beitrittsgebiet bemäntelt und bagatellisiert. Die Verharmlosungspolitik um den Art. 23 GG hat einen Haken. Mit dem ad hoc wiedereingesetzten Saarlandartikel 23 GG konnte der im deutschen Grundgesetz für eine ordentliche Wiedervereinigung der beiden Teilgesellschaften vorgesehene Art. 146 GG geschickt umgangen werden. Nach einem Beitrittsbeschluss vom 23. August 1990, war nichts mehr zu korrigieren. Die Fragwürdigkeit dieses Beitrittsbeschluss steht unangezweifelt im Raum, da bereits zehn Tage danach der ad hoc Beitrittsartikel 23 aus dem Grundgesetz verschwand und bis heute keine verifizierbare Staats- und völkerrechtliche Grundlage für den »Beitritt« existiert. Stattdessen rückte der Art. 23 nach zwei Jahren als Europa-Artikel wieder ins GG ein. Hier heißt es jetzt, dass die deutsche »Einheit« der Beginn einer freiheitlichen, demokratischen Neuordnung Europas ist.


DIE STAATENSUKZESSION VON 1990 WAR EINE

VÖLKERRECHTSWIDRIGE ANNEXION


Mit der Annexion der DDR durch die BRD verschwand der verfassungsgebundene Schutz des Volonté générale, des Gemeinwillens, verbürgt in den Bürgerpflichten einerseits und in den Staatspflichten gegenüber dem Staatsbürger und gegenüber der Staatengemeinschaft andererseits. Hierzu wurde die Einhaltung militärischer Neutralität und von Friedensverträgen, allen voran mit Russland festgelegt. So sah es die neue Verfassung der DDR von 1990, ausgearbeitet von der Arbeitsgruppe »Neue Verfassung« des Runden Tisches, vor.

Der Pflicht, sich selbst nach 1945 eine Verfassung zu geben, ist Deutschland weder 1952 noch 1990 nachgekommen. Horst Teltschik, der engste Berater Helmut Kohls, begründet dies später, am 14. März 2015 in einem Interview mit dem Deutschlandfunk unverblümt wie folgt: »[...] denn wir wollten ja keinen Friedensvertrag. Wir hatten ja schon im Herbst die Anfrage aus Moskau, ob die Bundesregierung möglicherweise bereit sein könnte zu einem Friedensvertrag. Wir haben einen Friedensvertrag von vornherein abgelehnt – nicht zuletzt wegen der Gefahr von Reparationsforderungen. Und da wäre ja nicht nur Griechenland ein Fall gewesen, sondern bekanntlich war das Nazi-Regime mit über 50 Ländern dieser Welt im Kriegszustand. Und stellen Sie sich vor, wir hätten im Rahmen eines Friedensvertrages Reparationsforderungen von über 50 Staaten auf dem Tisch gehabt.« Viele der einstigen DDR-Bürger wählten ab 2016 die neue Rechtspartei AfD, weil diese Partei in ihren Wahlkampfslogans »Wir hol’n uns unser Land zurück« und »Vollende die Wende« eine erinnerungskulturelle Wahrheit der DDR-Sozialisierten aussprach, die 1988-90 für Meinungsfreiheit- und Pressefreiheit, für die Reformierung ihres Landes aufgestanden sind. Viele der einstigen DDR-Bürger waren 1990 für eine Demokratisierung der DDR angetreten, für den Erhalt der Souveränität der DDR, für eine Verfassungsgründung nach Art. 146 GG, für eine Konföderation mit der BRD, die eine Staatsneugründung einschließt.

Die Losung »Vollende die Wende« kann treffender die Situation nicht benennen. Alles, was die Reformbewegung in der DDR zwischen 1989 und 1990 auf den Weg brachte, einschliesslich des Verfassungsentwurfs »Neue Verfassung der DDR« wurde von dem Coup des Bonner Kabinetts usurpiert und weggeputscht – durch eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR, schließlich durch eine Annexion. Die »Wende« von 1989/90 in der DDR, die Reformbewegung, ist in der Tat noch nicht beendet. Das von dem DDR-Fotografen Gerd Danigel fotografierte Graffiti »Heimweh nach 89« machte bereits 1992 diese Situation deutlich. Die AfD hat sich diese Situation 2016 angeeignet.

Der hemmungslose Einmarsch des Bonner Kabinetts in die DDR, die hemmungslose Einmischung in den dortigen Wahlkampf, die Übernahme der Reformbewegung, die Inamtbringung einer Putschregierung, genannt »erste frei gewählte Volkskammer«, die schließlich am 17. Juni 1990 den Verfassungsputsch ausführte, all das waren die Elemente einer Annexion, der mit Wohlwollen und Wohlgefallen einflussreicher Akteure in der DDR und der so genannten »Dissidenz« der Weg bereitet wurde. Und deren Folgen bis heute schwer wiegen: Die kritische deutsche Territorialfrage, wie auch die kritische deutsche Souveränitätsfrage (Deutschlandfrage), wie auch die kritische deutsche Verfassungsfrage, wie auch die kritische Frage der Reichs- und NS-Justiz, wurde mit der »Wiedervereinigung« 1990 nicht gelöst!

Das Einrücken unter den Bedingungen der Debellation (Ende eines Kriegs durch vollständige Zerstörung des Gegners) und der Leerwerdung von Gesetzeskraft im Verfassungs- und Völkerrecht sowie im öffentlichen und zivilen Recht heißt im Staatsrecht Staatensukzession. Eine Staatensukzession ist eine Annexion, darin sind sich die Staatsrechtler einig.

Die Staatensukzession der BRD in der DDR von 1990 war nichts anderes als die Vollständigwerdung der Subjektsidentität im Völkerrechtssubjekt Deutsches Reich. Somit war das Deutsche Reich, mit dem die BRD seit 1949 identisch war, wie es die ständige Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts feststellte, nie untergangen. Weder 1945, noch 1953, noch 1990. Es hatte sich mit der so genannten »Wiedervereinigung« regeneriert. Diese Zession wäre ein Grund, Deutschland aus der internationalen Staatengemeinschaft zu isolieren. Aber Deutschland hat längst vorgebaut. Mit der deutschen Leadership (Führung) des Suprastaates EU ist das praktisch unmöglich geworden.


PERSPEKTIVE: EINE VERFASSUNG

FÜR DEUTSCHLAND


Die liberale Demokratie ist nicht frei. Sie definiert ihre Freiheit auf Aktien- und Kapitalrecht, auf das Vorrecht der privatwirtschaftlichen Märkte. Dieses Vorrecht stellt Menschenrechte und Grundrechte hinten an, wie in den letzten 30 Jahren großräumig beobachtet werden konnte. Die liberale Demokratie ist, obzwar sie im Wertewesten zur einzig gültigen Demokratie stilisiert wird, keine demokratische Alternative. Sie hat sich ab 1990 in der DDR und in den ehemaligen Ländern des Ostblocks selbst ermächtigt, ohne einen Gesellschaftsvertrag mit dem Volonté générale, mit dem Gemeinwillen. Eine Parteienwahl ist kein Gesellschaftsvertrag, das weiß jeder Abiturient. Natürlich gibt es Alternativen zur liberalen Demokratie. Diese kommt ausschließlich von der Basis! Es wird endlich Zeit für eine verfassungsgebundene Basisdemokratie, einen Gesellschaftsvertrag mit dem Volonté générale. Es wird endlich Zeit nachzuholen, was 1990 mutwillig unterbunden wurde.







Dieser Text erschien in Ausgabe N° 50 am 04. Juni 2021




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