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DIE PANDEMIE IST VORBEI.

Anno 1989, Anno 2020: Die größte Demonstration Deutschlands im 21. Jahrhundert am 1. August 2020 rief Erinnerungen an den Mauerfall wach.

Von No Name

An exakt jener Stelle, an der die größte Verfassungsbewegung in Deutschland sich in Bewegung setzte, sang vor rund 31 Jahren die Menschen für die Freiheit. Erneut wurde Berlin-Mitte zum Austragungsort eines geschichtsträchtigen Ereignisses und die Lieder erklangen. Die Menschen in Deutschland kommen basisdemokratisch und geeint zusammen.

Der Demonstrationszug, der in seiner schier unendlichen Länge selbst den längsten Güterzug wie einen Stummel aussehen ließ, bahnte sich friedlich feiernd seinen Weg durch die Straßen Berlins. Um gegen die Aushebelung der Grundgesetze aufzubegehren und im gleichen Zuge von diesen Gebrauch zu machen. Es versammelte sich eine mit bloßem Auge nahezu unmöglich zu erfassende Teilnehmerzahl. Eine Zahl, deren genaue Bezifferung im Nachgang Gegenstand abenteuerlichster Spekulationen und Falschdarstellungen biblischen Ausmaßes vonseiten der Regierungsmedien wurde. Polizeiangaben mit 1,3 Millionen TeilnehmerInnen gingen am Nachmittag über den Ticker.

Kurz nach der Ankunft am Brandenburger Tor reihten wir uns in den bereits gestarteten Demonstrationszug ein, und schon zu diesem Zeitpunkt war die Energie der dortigen Menschenmenge spürbar. Immer wieder blieben wir entlang der Route stehen und beobachteten den vorbeiziehenden Menschenstrom, vergeblich versuchend, uns zumindest einen groben Überblick über die enorme Menge an Menschen zu machen. Die Stimmung unter den Demonstranten war ausgelassen und friedlich. Aus den Wagen wummerten die Bässe und Melodien, zu denen gesungen und getanzt wurde. Während des Zuges taten viele Demonstranten – auf der Straße sowie auf den Lastwagen und Traktoren – ihre klare Abgrenzung von rechtsradikalen Ideologien kund.

Dennoch blieb es nicht aus, dass sich im Laufe des Tages den Abgrenzungen zum Trotz unter die Menge sehr vereinzelte Menschen mit Reichsflaggen mischten. Diese Gruppierungen stellten jedoch lediglich einen verschwindet kleinen Bruchteil der Teilnehmer dar. Diese Symboliken wurden erfolgreich von einer Vielzahl an LBGQ-Flaggen, Peace-Zeichen, StarWars sowie Friedenstauben-Bannern übertrumpft — und am Ende ist‘s alles ein Stück Stoff.

Als wir dann den Ort der Kundgebung — die Straße des 17. Juni — erreichten, war dieser Bereich bereits hoffnungslos überfüllt und daher gesperrt.

Die Polizei leitete die restlichen Demonstranten über die seitlichen Grünstreifen an der Absperrung vorbei und so bahnten auch wir uns einen Weg durch das Grün zur Bühne. Bei Eröffnung der Kundgebung sprach sich der Veranstalter Michael Ballweg eindeutig gegen jedwede menschenverachtenden Positionen aus und erntete dafür tosenden Applaus, der bis zum Horizont ragenden Menschenmasse. Vielen anderen geplanten Rednern und KünstlerInnen wurde leider die Stimme verwehrt. Gerade als Ballweg das Mikrofon ergriff und Dr. Bodo Schiffmann mit seiner neuen Partei »Wir 2020« anzukündigen versuchte, betraten eine Handvoll Polizisten die Bühne und erklärten die Veranstaltung aufgrund der Nichteinhaltung der Hygiene-Maßnahmen für aufgelöst. Trotz der technischen Verstärkung durch mächtige Boxen ertranken die Worte des in diesem Moment nicht zu beneidenden Menschen in Uniform in der akustischen Flut und Gischt der Pfiffe und Buhrufe aus rund einer Million Kehlen.

Bemerkenswert war, dass bereits einige Zeit vorab die Meldung über die angebliche Auflösung der Demonstrationin verschiedenen Online-Live-Tickern liefen. Ein Schelm, wer dabei Böses vermutet. Ab diesem Zeitpunkt fing dieMenschenmenge an, sich etwas zu zerstreuen. Der weitaus größte Teil verharrte weiter bei der Bühne, sich weigernd, trotz der verhängten Entfernungspflicht vom Acker zu machen. Ein großer Teil flutete die Bundestagswiese um sich daraufhin daran zu machen, das Bundeskanzleramt zu umzingeln und »Angela, das Volk ist da« und »Vorbei, vorbei, die Pandemie ist vorbei«zu singen.

Wie immer man diesen denkwürdigen Tag auch in der Retrospektive betrachtet, man kommt nicht umhin zu bemerken, dass der 1. August nur mit Superlativen adäquat zu beschreiben zu ist. Die Versuche der Regierungspresse, den Elefanten in ein Hundehäuschen zu quetschen – also den Brocken einer Million auf das Partikel von lachhaften 20.000 zu komprimieren – gleichen einem Meisterstück der kognitiven Dissonanz oder des Vermögens, ohne Wangenrötung mit einer historisch beinah beispiellosen Dreistigkeit zu lügen.


REGIERUNG LÜGT ALLE AN

Doch was bleibt vom ersten August 2020? Welche Früchte mag dieser Tag eines – weiteren, baldigen! – Tages tragen? Kann sich Siegessicherheit allein auf die Zahl der Teilnehmer stützen? Haben sich in der jüngsten Vergangenheit restriktive Vorhaben von der bloßen – einmaligen – Massenpräsenz auf der Straße abhalten lassen? — Nein, Zahlen alleine zählen nicht, sondern das, was hinter diesen Zahlen steht. Wie ist es um die Geisteshaltung, die Krisengeschmeidigkeit und um den Veränderungswillen des oder der Einzelnen bestellt? Was setzen die Demoteilnehmer nach der Heimfahrt in ihrem Wirkungsradius fort, damit dieses Happening nicht wie ein gigantischer Sommerregen versickert, bei dem sich die Konstrukteure, die privilegierten Handlanger und die fanatischen Profilügner des Corona-Regimes lediglich kurz wegducken müssen? Was ist des langfristigen Wandels Quelle, dessen steter Tropfen den Stein unseres jetzigen Systems aushöhlt? Wie generiert man statt Schnappatmungen durch kurz frequentierte Empörung-Kaskaden die Lungenkapazität für den notwendigen, langen Atem, der die entgegen wehenden und drehenden Windräder zum Stillstand bringt?

Mit einer kurzen Phase des Aufbegehrens ist es weiß Gott nicht getan! Das beweist der Widerstand gegen das DDR-System, an den sich an diesem Tag viele Ostdeutsche erinnert fühlten, wie wir in persönlichen Gesprächen erfuhren. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich nach ’89 nochmal für Freiheit auf die Straße gehen muss«, erzählte uns ein ostdeutscher Demokrat.


BEIM NÄCHSTEN MAL FÜNF MILLIONEN

Es ist an uns allen, dafür Sorge zu tragen, dass der Geist der Freiheit, der nun aus der Flasche entwichen ist, sich nicht erneut zu einem Poltergeist der Ungleichheit verwandelt, sondern dass es uns dieses mal gelingt, den Revolutionsprozess konsequent zu gestalten, sodass ein Gesellschaftsgefüge entsteht, welches ein hoch angesetztes Mindestmaß an Gerechtigkeit und direktdemokratische Strukturen gewährleistet — und vielleicht eines Tages wirklich die »blühenden Landschaften« hervorbringt, die Helmut Kohl uns bis zu seinem Tod schuldig geblieben ist. Nun ist es an uns!

Der erste Etappensieg wartet am 15. August 2020 auf uns, weil da nach Ende der Inkubationszeit von 14 Tagen final bewiesen wird, was die BLM-Demo im Juni unlängst bewies; das dicht aneinander gedrängte, unmaskierte Demonstrieren löst keine Welle an Neuinfektionen aus! Und so sehr noch darüber zu diskutieren wird, was der Einzelne tun kann und muss, so lässt sich doch zumindest konstatieren, was jeder einzelne derjenigen, die an diesem überaus bedeutsamen Tag in Berlin zugegen waren, nicht tun wird. Er oder sie wird einen Teufel tun, sollte erneut auf Grundlage einer zweiten von null Wellen verkündet werden, man müsse zuhause bleiben und vom Home-Office aus beobachten, wie die eigene Existenz den Bach runtergeht. Niemand, der an diesem Tag in Berlin war, wird widerstandslos das Hoheitsgebiet über den eigenen Körper aufgeben.

Die Geschichte konstruiert sich aus alle dem, was die Menschen tun und nicht tun. Soll der Lauf der vor uns liegenden Geschichte zu unseren Gunsten verlaufen, so sind wir angehalten, das Richtige zu tun und das Falsche zu unterlassen. Die Taten sind die Tinte, mit der Geschichte geschrieben wird. Und da Geschichte bekanntermaßen von den Siegern geschrieben wird, müssen wir Demokraten die Strategien des Siegens erlernen. Wir werden siegen!




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 15 am 07. Aug. 2020




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