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DIE CORONA-BETRÜGER I

»VON LICHT BIS LICHT UND NOCH ‘NE SCHICHT«

BRAUCHT ECHTE DEMOKRATIE EINE NEUE GEWERKSCHAFT?

Von Johnny Rottweil

Ich gehe seit einigen Wochen auf die Straße, verteile Zeitungen, so oft ich kann. Revolution ist ganz schön anstrengend! Ihre Notwendigkeit jedoch ist nicht mehr zu leugnen. Schleichend hat sich das System in eine Unterdrückungsmaschinerie verwandelt. Ich spreche nicht von den Ereignissen der letzen Wochen, ich spreche von Jahren. Die Pervertierung des sozialen Rechtsstaates hin zu einem repressiven Machtinstrument zieht sich durch alle gesellschaftlichen Ebenen. Totale Kontrolle! 

Weniger denke ich dabei an Drohnen, die zur Überwachung diffuser Abstandsregeln eingesetzt werden oder an vom Verfassungsschutz frisch angeworbene Spitzel, die sich auf hinterhältige Weise an friedlich Protestierende heranwanzen, wie es meiner Schwägerin kürzlich passiert ist. Es ist der kontinuierliche Abbau des Sozialstaates und der Arbeitnehmerrechte, den ich anprangere. 

Begriffe wie »Soziale Marktwirtschaft«, »Arbeitszeitgesetz« oder »Arbeitsschutzgesetz« sind für mich nur leere Worthülsen und das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Es mag sein, dass einige wenige Berufsgruppen von diesen Instrumenten profitieren, doch bedeutet die vielgepriesene Solidaridät mit den einen immer auch zugleich die Ausgrenzung der anderen. 

Im Großen und Ganzen stellt sich mir schon lange die Frage, was hier eigentlich geschützt werden soll: Der Arbeiter oder die Arbeit? 

Meine Branche stellt in jeder Hinsicht die gesetzlich verankerte »Ausnahme der Ausnahme« dar. Ich bin Gleisbauer und arbeite seit langem im Inund Ausland. Ich mache meine Arbeit gern — eigentlich. Denn das Korsett, in das man uns gepresst hat, wird seit Jahren immer enger geschnürt. Uns bleibt die Luft weg. 

Die Arbeitszeiten sind verheerend. Zwölf Stunden auf Baustelle sind die Norm, mein persönlicher Rekord liegt bei 48 Stunden. Einige Kollegen haben es auf 56 gebracht. Es findet ein häufiger Wechsel zwischen Tag- und Nachtschichten statt. Wochenenden und Feiertage fallen nicht selten aus. Der Körper weiß oft nicht mehr, wo oben und unten ist. Unter diesen Bedingungen wird mitunter zwei, drei, auch schon mal sechs Wochen am Stück gearbeitet. Oft geht es von einer Baustelle zur nächsten. 

Während der zwei Tage im letzten Sommer, an denen ein neuer Hitzerekord mit 42 Grad im Schatten gemessen wurde, arbeiteten wir je 18 Stunden, ohne jeglichen Schutz vor Sonne. Wir haben Blut geschwitzt! 

Und das alles, während die Gesetzeslage für Angestellte in Büros eine Arbeitszeitreduzierung auf 4 Stunden ab 29 Grad und die Einstellung der Arbeit ab 35 Grad vorsieht. Wir sind ja an der frischen Luft...

Die entsprechenden Gesetze lassen dem Arbeitgeber ausreichend Spielraum, uns auf legale Weise bis auf den letzten Tropfen auszuquetschen. Dort, wo Grenzen überschritten werden, schaut der Gesetzgeber bereitwillig weg. Prüfungen finden nicht statt. Meine Vorgesetzten sind angehalten, der Ausbeutung Vorschub zu leisten, in dem sie genötigt werden, die entsprechenden Stundenabrechnungen und Pausenzeiten zu fälschen (welche Pausen?). Manche weigern sich, schreiben die korrekten Zeiten. Am Ende stehen trotzdem immer gesäuberte Zahlen da. Die Zettel gehen über viele Schreibtische.

BETRIEBSRAT? FEHLANZEIGE!

Gleisbau gilt als eine der gefährlichsten Branchen. Doch auch hier wird eklatant am Arbeitschutz gespart. Während mancher Nachtschichten wird aus Kostengründen davon abgesehen, die Arbeitsbeleuchtung einzuschalten. Mitunter kommt es vor, dass wir vom Bauleiter angehalten werden, in einem Bauabschnitt zu arbeiten, der nicht durch die enstprechende Warnanlage gesichert ist.

Wir betreten dann, weil es nicht anders geht, das befahrene Nachbargleis ohne jeglichen Schutz und unter Lebensgefahr! Auch auf kostspielige Zulassungspapiere und Bescheinigungen wird mitunter verzichtet.

Ich hörte von einem Kollegen, der seit Jahren ohne die notwendige Berechtigung im Gleis arbeitet. Ich habe während meiner Tätigkeit im Gleisbau mehrere Unfälle miterlebt. Abgetrennte Gliedmaßen zählen hier zu den minderschweren Fällen. Wenn dich vor Erschöpfung die Konzentration verlässt, kann es schnell passieren, dass du folgenschwere Fehler machst. 

Betriebsrat? Fehlanzeige! Vor vielen Jahren hatte eine Handvoll Mitarbeiter einer mir bekannten Firma versucht, einen Betriebsrat zu gründen. Die Versetzung in verschiedene Niederlassungen, weit weg von Familie und neugebautem Häuschen, ließ nicht lange auf sich warten. Nach wenigen Monaten hatte man sie alle in die Kündigung gemobbt. 

MIR REICHT DIE REALITÄT

Nicht einmal ihre Mitgliedschaft in der Gewerkschaft hatte sie schützen können. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. In jenem Unternehmen kam es seither nie wieder zu dem Versuch, einen Betriebsrat zu etablieren. 

Wir Arbeiter halten zusammen, organisieren uns in spontan einberufenen Räten, um Bedingungen an den Arbeitgeber zu formulieren. Androhung von Streik im Kleinen, jedoch ohne gewerkschaftliche Rückendeckung. 

Ein Spagat – denn als Stundenlöhner sind wir auf ein Maximum von Stunden angewiesen. In den Sommermonaten kommen die meisten, je nach Auftragslage, auf bis zu 300 Stunden pro Monat. Familienleben ist hier schlicht nicht mehr möglich! Mein Hobby habe ich längst an den Nagel gehängt. Auch kann ich mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Zeit hatte, ein Buch zu lesen. Man läuft Gefahr, vollends zu resignieren...

»Von Licht bis Licht und noch ‘ne Schicht.« So geht ein Sprichwort unter uns Arbeitern. Das ist unser Alltag. Zu müde, um uns zu erheben. Keine Kraft mehr für den Aufstand. 

Der Chef reibt sich die Hände: Er hat uns die Arbeitsleistung von Zweien zu den Lohnnebenkosten von einem Arbeitsplatz abgepresst. Im Grunde aber bewegt er sich nur innerhalb des Spielraums, den andere geschaffen haben. Neben dem Arbeitgeber profitiert am meisten die Regierung von diesen perfiden Zuständen.

Ein bis zur Schmerzgrenze beschäftigter Arbeiter, ist ein guter Untertan. Er funktioniert nur noch, erwirtschaftet brav das allheilige Wachstum, trägt zur Steigerung des Bruttoinlandproduktes bei, hält den Laden mit Steuerzahlungen am Laufen. Die Regierung scheint keinerlei Interesse an der Regulierung der Märkte zu haben. Von den Parteien erwarte ich keine Hilfe, nicht einmal mehr von der Linken. Die soziale Marktwirtschaft ist tot! 

Ich raffe mich auf, nehme meine Kraft zusammen und gehe auf die Straße. Jeden Samstag, sofern es mein Einsatzplan zulässt. Verschwörungstheorien brauche ich nicht, mir reicht die Realität. 

Ich will mir keinen andern Job suchen. Ich bin Gleisbauer! Ich möchte verteidigen, was ich mir aufgebaut habe. Aber ich will endlich unter menschenwürdigen Bedingungen arbeiten können, möchte Mensch sein dürfen. 

Dies zu erreichen scheint mir nur möglich, wenn man dem Bürger endlich zugesteht, sich einzubringen und aktiv mitzugestalten. Das bedeutet weit mehr, als alle vier Jahre bei einer beliebigen Farbe sein Kreuzchen zu setzen. Ich fordere eine direkte Demokratie. Ich fordere den Systemwechsel. Jetzt! 


Der Autor ist Arbeiter und lebt im Land Brandenburg. Der Name wurde auf Wunsch des Verfassers redaktionell geändert.




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 8 am 12. Juni 2020




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