DW: Der AfD-Kandidat Joachim Paul wurde in Ludwigshafen von der Oberbürgermeister-Wahl, die am 21. September stattfindet, ausgeschlossen (DW berichtete umfassend in den Ausgaben 224 und 225, siehe demokratischerwiderstand.de). Sie haben in einem ausführlichen Posting auf X am 23. August 2025 kritisiert, dass Kollegen von Ihnen unzutreffende Rechtsansichten im Fall Joachim Paul herausposaunen. Es geht etwa um die Aussage, dass der Wahlausschuss keine politischen Entscheidungen treffen dürfe, sondern dieser die Bewerberunterlagen nur auf formelle Ordnungsgemäßheit zu überprüfen habe, wie es etwa Ihr Kollege Joachim Steinhöfel erklärte. Davon ging auch Joachim Paul selbst aus. Er sagte im DW-Interview: »Die Entscheidung, die der Wahlausschlusstrifft, darf nicht politischer Natur sein«. Warum liegen die beiden mit dieser Ansicht falsch?
Dr. Ulrich Vosgerau: Es ging nicht um politische oder unpolitische Entscheidungen – das ist keine Kategorie im Verwaltungsrecht – sondern darum, ob der Wahlausschuss ein materielles Prüfungsrecht hat. Das ist der Fall. Der Wahlausschuss hat nach geltendem rheinland-pfälzischem Kommunalrecht zu prüfen, ob ein Bewerber für das Oberbürgermeisteramt – weil dieser eben ein Wahlbeamter auf Zeit ist – Gewähr dafür bietet, jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten. Das ist eine materiell-rechtliche Frage. Es geht also in der Tat nicht nur darum, ob zum Beispiel die Bewerbungsunterlagen fristgerecht eingereicht wurden. Diese Prüfung ist auch kein Verstoß gegen Paragraph 45 des Strafgesetzbuches, eine Rechtsnorm, die ebenfalls ins Spiel gebracht worden ist. Hier geht es darum, dass jemandem wegen einer Straftat durch Richterspruch das passive Wahlrecht aberkannt wird. Darum geht es hier aber nicht.
DW: Wie Sie auf X ausführten, ist Paragraph 45 des Strafgesetzbuches deswegen nicht einschlägig, weil es hier um die »Erkennbarkeit« eines Kandidaten zum Wahlbeamten auf Zeit geht, weshalb sich die Rechtslage ganz anders darstelle. Erklären Sie das bitte.
U.V.: Es soll nicht infolge einer Straftat das passive Wahlrecht aberkannt werden, sondern er soll zum Oberbürgermeister, der eben Wahlbeamter ist und nicht Mandatsträger, nicht »wählbar« sein. Freilich ist die fragliche Rechtsvorschrift – also Paragraph 53 Absatz 3 der Gemeindeordnung Rheinland-Pfalz – in mehrfacher Hinsicht verfassungsrechtlich problematisch. Das beginnt eben damit, dass hier die »Wählbarkeit« und die »Ernennbarkeit zum Beamten« einfach kurzgeschlossen werden mit der Folge, dass vermeintlich problematische Kandidatengar nicht erst zur Wahl antreten dürften. Richtiger wäre es, wenn erst die Wahl stattfindet, und erst, wenn Joachim Paul Prüfung stattfinden, ob seiner Ernennung zum Wahlbeamten auf Zeit irgendetwas entgegensteht. Vorher wird die Frage ja auch eigentlich gar nicht relevant und es ist eine so nicht erforderliche Verletzung der Grundrechte eines Kandidaten, sie überhaupt durch amtliche Stellen in der Öffentlichkeit erörtern zu lassen.
»ES ERINNERT AN DAS VERSAGEN
IN DER CORONA-ZEIT«
DW: Ist es nicht ein Unding, dass ein Wahlausschuss mit »Parteisoldaten der Konkurrenz«, wie Joachim Paul sie im DW-Interview in Ausgabe 225 bezeichnete, einen Konkurrenten einfach so im Vorfeld ausschalten kann?
U.V.: Ja, das ist das nächste verfassungsrechtliche Problem. Der Wahlausschuss ist ja keine unabhängige Stelle gar mit quasi-gerichtlicher Qualität, sondern er wird gemäß Paragraph 8 des Kommunalwahlgesetzes von Rheinland-Pfalz von den in der Gemeinde vertretenen Parteien besetzt, das heißt, von der politischen Konkurrenz. Dadurch entsteht in der Sache ein Konzessionssystem, das heißt, es finden zwar Wahlen statt, aber das bereits vorhandene Establishment entscheidet, wer überhaupt antreten darf. Und dann sagen auch noch die Verwaltungsgerichte, nun in zwei Instanzen: Der einstweilige Rechtsschutzhiergegen sei eingeschränkt, und in der Regel müsse man die Wahlen abwarten und diese dann hinterher anfechten ...
DW: Sie schrieben, dass sich dem Verwaltungsgericht dennoch »eine einfache Lösung angeboten« habe: Dieses hätte sagen können, dass »die vom Verfassungsschutz zusammengetragenen Vorwürfe ohnehin nichtreichen würden, um jemanden von der Wahl auszuschließen«.
U.V.: Ja, das Problem besteht wie gesagt hier ja darin, dass das Vorgehen des Wahlausschusses, rein formell betrachtet, nicht gegengeltendes Recht verstößt. Das in Rheinland-Pfalz geltende Recht dürfte aber gegen das Demokratiegebot des Grundgesetzes verstoßen. In einem Hauptsacheverfahren, also der möglichen Wahlprüfungsbeschwerde nach der Wahl, könnten die Gerichte das Verfahren dann aussetzen und dem Bundesverfassungsgericht die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit des rheinland-pfälzischen Kommunalwahlrechts vorlegen. In einem einstweiligen Rechtsschutzverfahren geht das aber nicht. Nun ist es aber so – das sehe ich auch nicht anders – dass die Entscheidung des Wahlausschusses, materiell betrachtet, unhaltbar und rechtswidrig ist. Denn die seitens des Landesverfassungsschutzes vorgelegten elf Seiten mit »Belastungsmaterial« gegen Joachim Paul sind einfach nur lächerlich. Daher hätten die Verwaltungsgerichte, wären sie bei Verstand gewesen, einfach gesagt: Auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit der einschlägigen Normen kommt es hier gar nicht an, da jedenfalls das vorgelegte, angeblich gegen Pauls Verfassungstreue sprechende Material diesen Schluss niemals hinlänglich trägt, und deswegen ist er zur Wahl zuzulassen. Nach Ansicht der Verwaltungsgerichte wäre dies im Vorfeld einer Wahl nur in »Evidenzfällen« möglich, wenn also die Unrichtigkeit der Entscheidung des Wahlausschusses offensichtlich ist. Aber so lag es hier!
DW: Der libertäre Ökonom Dr. Markus Krall erklärte auf X, was das Gericht mache, sei »eine Umstülpung fundamentaler rechtsstaatlicher Prinzipien« und eine »Strafanzeige wegen offener Rechtsbeugung« sei unvermeidlich. Wie sehen Sie es?
U.V.: Nun ja. Eine Strafanzeige gegen die beteiligten Richter am Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße wie am Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in Koblenz dürfte eingestellt werden, da hierfür ja geltendes Recht vorsätzlich und in eklatanter Weise hätte verletzt werden müssen. Jedenfalls der Vorsatz dürfte nicht nachweisbar sein. Es ist zwar peinlich, dass die Gerichte die Fadenscheinigkeit des Papiers des Verfassungsschutzes, die völlig offensichtlich ist, nicht erkennen oder erkennen wollen. Dies erinnert in der Tat an das Versagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Corona-Zeit, als diese ja auch vielfach gesagt haben: »Wenn die Regierung sagt, es ist gerade keine Zeit für Grundrechte, dann ist das eben so.« Die gesetzliche Regelung in Rheinland-Pfalz widerspricht meines Erachtens dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes; das Oberverwaltungsgericht nimmt übrigens zu dieser Frage Stellung und sieht dies anders, wie ich finde, aufgrund eines mangelnden verfassungsrechtlichen Problembewusstseins, was wir auch schon aus der Corona-Zeit kennen. Das Oberverwaltungsgericht bezieht sich dabei auf die Landesverfassung; meines Erachtens verletzt die landesrechtliche Regelung aber auch schon das Homogenitätsgebot aus Artikel 28 Absatz 1 des Grundgesetzes, nachdem auch in den Ländern das Demokratieprinzip gerade im Sinne des Grundgesetzes umzusetzen ist.
»WIR BEFINDEN UNS IN EINEM ÜBERGANG VON
DEMOKRATIE ZUR ›POSTDEMOKRATIE‹«
DW: Joachim Paul hatte, nachdem seine Beschwerde vom Verwaltungsgericht abgewiesen worden war, Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Koblenz eingelegt. Doch auch diese wurde am Montag, den 25. August 2025, zurückgewiesen. Die Nichtzulassung zur OB-Wahl sei nicht rechtswidrig, hieß es. Was würden Sie Joachim Paul nun raten? Gibt es eine Chance für ihn, dass er doch noch als OB-Kandidat antreten könnte?
U.V.: Es ist auch noch die Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Paragraph 32 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes möglich. Parallel dazu sollte gleichzeitig auch eine einstweilige Anordnung beim Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz beantragt werden. Denn das Demokratieprinzip steht im Grundgesetz wie in der Landesverfassung.
DW: In Röttingen (Landkreis Würzburg/Bayern) wurde 2024 mit Steffen Romstöck ein Mann zum Bürgermeister gewählt, dessen Name nicht auf dem Wahlzettel stand. Er nahm die Wahl an. Wäre ein solches Szenario auch in Ludwigshafen möglich?
U.V.: Nein. Das ist eine landesrechtliche Besonderheit in Bayern, die aus Artikel 40 Absatz 2 des Gemeinde- und Kreiswahlgesetzes Bayerns folgt. Ist bei einer Bürgermeisterwahl kein oder nur ein einziger Wahlvorschlag zugelassen worden, so beschränkt sich das Wahlrecht der Bürger nicht auf Kandidaten, die vorgeschlagen sind oder sich beworben haben, also auf dem Wahlzettel stehen. Das heißt, dieser Fall wäre ja selbst dann nicht einschlägig, wenn die Vorschrift auch in Rheinland-Pfalz gelten würde, denn dort gibt es ja immer noch mehr als einen Kandidaten. Auch in Bayern wird der Name dann nicht »einfach so« auf den Wahlzettel geschrieben, sondern für die »freie Wahl« bei Kandidatenmangel ist dann ein Feld auf dem Wahlzettel vorgesehen. Wie der Wahlzettel dann aussieht, folgt aus der Anlage 7 zur Wahlordnung für die Gemeinde- und Landkreiswahl in Bayern.
DW: Bei vielen Bürgern beziehungsweise Wählern kommt jetzt einmal mehr ein Ohnmachtsgefühl auf. In Ludwigshafen gibt es de facto keine wirkliche Wahl mehr, da nur noch linke Kandidaten wählbar sind. Joachim Paul macht den Menschen bereits Mut, indem er auf die Landtagswahlen im März verweist. Wie sehen Sie als Anwalt und Staatsrechtler die Lage: Besteht Grund zur Resignation oder was macht Sie zuversichtlich?
U.V.: Mit der »Sperrung« von oppositionellen Kandidaten mit erheblichen Erfolgschancen ist in der Tat eine neue Eskalationsstufe erreicht, mit der man früher nicht gerechnet hätte. Dies hat man bislang nicht versucht, weil man eben davon ausging, die Verwaltungsgerichte würden entsprechende Kandidaturverbote nicht mitmachen. Nun hat sich in der Corona-Zeit gezeigt, dass auch Verwaltungsgerichte allerhand mitmachen, wenn man sie übergeraume Zeit über die Massenmedien, das heißt, vor allem über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, bearbeitet. Auch Richter am Verwaltungsgericht sehen jeden Abend die Nachrichten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und glauben, hier im Wesentlichen gesicherte Tatsachen in fairster Darlegung mitgeteilt zu bekommen.
»EINE OPPOSITION IST NICHT
MEHR VORGESEHEN«
DW: Immer mehr Menschen in diesem Land haben das Gefühl, dass Richter längst nicht mehr unabhängig entscheiden, entweder weil sie auf Beförderungen hoffen oder aber Restriktionen befürchten. Wie nehmen Sie es bei Ihrer Arbeit vor Gericht wahr?
U.V.: Ich habe ja in zahlreichen Vorträgen und Veröffentlichungen darzulegen versucht, dass wir uns schon seit längerem in einem Übergang von der Demokratie zur »Postdemokratie« befinden. Das ist nicht unbedingt ein guter Begriff, aber es gibt eben auch keinen besseren. Geschichtliche Vorgänge und Wandlungen, in denen man selber als Zeitgenosse drinsteckt, kann man nie wirklich gut durchschauen und beschreiben, das hat Hegel einmal schön auf den Punkt gebracht mit seiner Metapher von der Eule der Minerva, also der Weisheit, die erst in der beginnenden Dämmerung ihren Flug beginne, und da sind wir eben noch nicht. So, wie die Demokratie von Gegensatz von Regierung und Opposition geprägt war, die total unterschiedliche politische Ansichten vertreten, aber beide gleichermaßen legitim sind – die Opposition kann unblutig zur Regierung werden und umgekehrt, und dies gilt gerade als der große Vorzug der Demokratie – ist in der entstehenden Postdemokratie der »Elitenkonsens« maßgeblich. Wer aus dem Elitenkonsens ausschert, ist dann nicht Opposition, sondern Verfassungsfeind. Das wollen Richter natürlich nicht sein oder werden, und das hat sich, wie gesagt, auch schon in der Corona-Zeit gezeigt. Mit der immer weiter voranschreitenden Durchdringung des nationalen, auf demokratischen Legitimationsketten beruhenden Rechts durch Unionsrecht und sonstiges Recht, das auf internationale Organisationen zurückgeht, ist ja in der Politikwissenschaft der Begriff »governance« aufgekommen. Dieser ist interessant: Er erinnert an »government«, und er hat natürlich auch mit Regierung, Machtausübung, Steuerung zu tun, aber: bei »government« weiß man, was das Gegenteil davon ist, nämlich: »opposition«. Der Begriff »governance« hat hingegen kein benennbares Gegenteil, eine Opposition gegen »governance« ist nicht mehr vorgesehen ...
DW: Herr Dr. Vosgerau, wir danken Ihnen für das Gespräch.