Glosse

Kolumne Medien von Prof. Michael Meyen

100 Jahre Staatsfunk

Von Prof. Michael Meyen

Das Radio feiert sich gerade selbst. Fenster zur Welt und Kultur frei Haus. All das soll am 29. Oktober 1923 mit der Berliner Funk-Stunde begonnen haben. Propaganda? Die Nazis, klar. Das ist aber nur die halbe Wahrheit.

Wenn das Radio Geburtstag hat, dürfen Einstein und Goebbels nicht fehlen. Erst dieTechniker, sagte der Physiker bei der Funkausstellung 1930, machen wahre Demokratiemöglich. Oersted, Maxwell, Hertz. Und jetzt haben wir »die Werke der feinsten Denker und Künstler« in jedem Ohr »und erwecken so die Völker aus schläfriger Stumpfheit«.Wenn da nicht 1933 gewesen wäre.

Nichts gegen Einstein. Vielleicht hat er nicht gewusst, wie der Rundfunk in Weimarorganisiert war. Diese große Möglichkeit zur Volksbeeinflussung dürfe nicht Privatfirmen überlassen werden, sagteKarl Stingl, Postminister von 1922 bis 1926. Das Reich war gerade klamm unddie Technik noch nicht so weit, um das ganze Land von Berlin aus zu versorgen. Also gründete man neun Regionalgesellschaften und besorgte sich das Kapital von Investoren. Heute würde man sagen: Der Konzernstaat geht auf Sendung.

Bei der Mirag hieß der Hauptaktionär Edgar Herfurth – einer der reichsten Leipziger undBesitzer der Leipziger Neuesten Nachrichten, der größten Zeitung in Mitteldeutschland. Ihre Meldungen bekam die Mirag ab Herbst 1926 vom Drahtlosen Dienst, der zu 51 Prozent dem Reichsinnenministerium gehörte und das senden ließ, was der Presseabteilung der Regierung in Berlin gefiel.

Damit in der Provinz nichts schiefgehenkonnte, bekamen Regionalgesellschaften wie die Mirag Überwachungsausschüsse, besetzt mit Beamten aus Reich und Ländern, die genau das gemacht haben, was der Name des Gremiums versprach. Programmchefs einberufen und absetzen, Sendungen und Manuskripte ablehnen. Die Haushaltsaufsicht lag bei der Post und damit bei der Regierung.

Morgen feiern wir 100 Jahre Staatsfunk, auch wenn die Gremien inzwischen anders heißen und die Drähte oft so fein sind, dass man sie nur schwer erkennen kann. Anstoßen sollten wir auf Bert Brecht und seine Radiotheorie. Jeder ein Sender. Brecht: »Sollten Sie dies für utopisch halten, so bitte ich Sie, darüber nachzudenken, warum es utopisch ist.«



© Bild: Privat

Dies ist ein Originalbeitrag für die Print-Wochenzeitung Demokratischer Widerstand #DW152 (vgl. demokratischerwiderstand.de). Michael Meyen, geboren 1967 auf Rügen, ist Diplom-Journalist und Professor für Kommunikationswissenschaft in München.




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 152 am 27. Okt. 2023




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