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WER WILL DA PUTIN WEGPUTSCHEN?

Seit Wochen fabulieren westliche Medien von einem Sturz des russischen Präsidenten durch die Opposition. DW- Osteuropakorrespondent ILIA RYVKIN hat sich mit unterschiedlichen Oppositionellen getroffen, sich umgehört und umgeschaut. Sein Fazit: Kein Umsturz in Sicht. Und vielleicht ist das für Freunde der Zivilisation auch gar nicht so verkehrt.

Von Ilia Ryvkin

»Ein Tier, das einmal Blut geleckt hat, vergisst den Geschmacknie«, sagt sie. Ich erzähle Natascha von der Reise in den Donbass, die ich vor Jahren unternommen habe und die meine Weltanschauung geprägt hat. Ja, die mich verändert hat, weit über den Wunsch hinaus, wieder dorthin zu fahren. Natascha schaut mich böse an. Sie engagiert sichbei der »Stiftung zur Korruptionsbekämpfung« von Alexej Nawalny. Die Verhältnisse, aus denen sie stammt, nennt sie »toxisch«.


»Toxisch« – als Chemikerin benutzt sie das Adjektiv oft und gern. Ihre Eltern sind nach wie vor bei der Polizei, früher Volksmiliz, in einer russischen Provinzstadt. Sie wohnen im Plattenbau. An den Wänden ihrer Wohnung hängen Teppiche. Jeden Winter nehmen die Eltern die Teppiche von den Wänden, tragen sie in den verschneiten Hof und prügeln mit ihren Dienstknüppeln den Staub heraus. »Die Teppiche stinken nach Blut«, sagt Natascha. Natascha hasst Blut. Und Schnee. Genauso wie russische Birkenhaine und die Natur überhaupt. Sie hasst Ballett. Und Dostojewski. Und Putin. Weil er toxisch ist, meint sie. Putin sei ein patriarchaler Russe, ein Bulle, wie ihr Vater.

»Dem Vater werde ich so einiges nicht verzeihen können«, sagt sie. Als Putin grünes Licht für die Spezialoperation gab, dekorierte Natascha ihre Profilbilder in den sozialen Netzwerken mit der ukrainischen Fahne. Mit Gleichgesinnten, alles woke, weltoffene, fortschrittliche Russ*innen, ging sie auf die Straße um ihre Stimme gegen den Krieg zu erheben. Ein paar Tage später, um fünf Uhr morgens, bekommt sie unangemeldet Besuch. Die Beamten von der Extremismusbekämpfung beschlagnahmen Nataschas Rechner und Telefon. Sie steht jetzt unter dem Verdacht, wissentlich Falschmeldungen über die föderalen Streitkräfte zu verbreiten, was seit Kurzem als Straftat gilt. Danach löscht sie alle betreffenden Postings und Kommentare. Natascha glaubt, die Strafverfolgungsbehörden versuchen Druck auf sie auszuüben. Höchst beunruhigend für die zugezogene Moskauerin. Doch einen neuen Gulag hinter dem Eisernen Vorhang vermag selbst Natascha dem Land nicht anzudichten.


DIGITAL-ELITE
FLIEHT AUSSER LAND


Facebook, Twitter, TikTok und Instagram sind in Russland auf Betreiben der Verbraucherschutzbehörde seit März 2022 nur mehr per Verschlüsselung erreichbar. Der angegeben Grund: Die Zensur, die betrieben wird. Anbieter wie wie Telegram, VK, Parler, Gettr, die kaum zensieren, stehen den Russen weiterhin zur Verfügung. Die manipulative Macht der westlichen Big-Techund Finanzkonzerne wird so zumindest teilweise eingeschränkt.

Dem folgte jedoch die Flucht allerlei Vertreter der globalistischen Elite. Professionelle Westlinge, der Glitter der urbanen Schickeria, selbsternannte Inteligenzija, die »dieses Land« und »das Volk« schon immer verachtet haben, sehen für sich im heutigen Moskau keinen Platz mehr. Exemplarisch dafür ist die Flucht von Putins »Sonderbeauftragten für die Beziehungen zu internationalen Organisationen zur Erreichung nachhaltiger Entwicklungsziele«: Anatoli Tschubajs. Ein Dinosaurier der russischen Politarena, der zu Putins Aufstieg einen bedeutenden Beitrag geleistet hat, ein Stammgast der Bilderberg-Konferenz, ein selbsterklärter liberaler Imperialist machte den polnischen Abgang. Äußerst unbeliebt beim Volk, das ihm die räuberische Privatisierung der Neunziger zu verdanken hat, setzte er sich zuletzt für grüne Energie und eine Minderung des Fleischkonsums ein. Damals wurde die Sowjetindustrie zu willkürlichen Preisen Knall auf Fall versteigert, heutzutage gehört zur »Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele« laut dem feinen Herrn Tschubajs eine radikale Reduktion der Weltpopulation auf 1,8 Milliarden. So ein Juwel hat die russische Krone verloren.


ZURÜCKGESETZTE
OLIGARCHEN


Eine bunte Truppe aus Politikern, Geschäftsleuten und Promis, die sich selbst das »Russische Antikriegskomitee« nennt, gab Ende Februar 2022 ihre Kampfansage kund, gegen »den Diktator, der in der Ukraine einen Krieg entfesselt hat«, vorgehen zu wollen. Zu diesem edlen Organ des Volksgewissens gehören unter anderem der Oligarch Michail Chodorkowski, der früher politische Gegner durch seinen eigenen Sicherheitsdienst ermorden ließ. Dazu der Schachweltmeister Garri Kasparow, ein glühender Sympathisant der Demokratischen Partei der USA sowie der wegen Kidnapping angeklagte Geschäftsmann Jewgenij Tschitschwarkin. Außerdem der Politiker Dimitri Gudkow, ein Stammgast der amerikanischen NGO »Freedom House«. Man warf ihn unlängst wegen Unterschlagung von Immobilien aus dem Parlament. Sie und einige weitere, die vom Ruf und Werdegang her in die illustre Runde passen, riefen die Mächtigen der Welt dazu auf, eine »eindeutige Haltung zu Völkerrechtsverstößen« einzunehmen, und sich »ungeachtet aller Differenzen gegen die Diktatur« zu vereinen. Sogar eine neue Fahne haben sie sich ausgedacht: Weiß-blau-weiß sollen die Farben des gezähmten Russen werden, damit sich alle Probleme lösen.


MOSKAUER KUNSTSZENE:
KRIEG ALS KREATIVRAUM


Auf der Suche nach anderen Oppositionsstimmen treffe ich in Moskau den Schriftsteller und Dramaturgen Wladimir Golyschew. Ich kannte ihn bisher nur aus dem Internet, aus Zeiten, als er sich als linker Christ für die Freilassung der damals verhafteten »Pussy Riot«Teilnehmerinnen einsetzte. Später schrieb er für den von den USA finanzierten Rundfunksender Radio Liberty.

Als wir uns heute persönlich zum ersten Mal treffen, wirkt er auf mich naiv, fast kindlich. Mit glühenden Augen spricht er von der »kommunistischen Idee« und den Vorteilen der Planwirtschaft, schwärmt von der Freundschaft der Völker, die er als Kind erlebte. Während unseres Gespräches schreibe ich mehrmals das Wort »sowjetromantisch« in mein Notizbuch. Ich hätte Golyschew nicht für einen Putinisten gehalten. Trotzdem unterstützt er die hier überall so genannte Spezialoperation. Die zweifelhafte Erzählung über die Denazifizierung der Ukraine nimmt er für bare Münze. »Die Befreiung der Ukraine von den Faschisten ist unbedingt notwendig. Und dann kommt die Denazifizierung Russlands.«, so seine Vision.

Für Golyschew bedeutet der Krieg die Abkehr von dem seit dreißig Jahren herrschenden antikommunistischen Geschichtsbild und eine Hinwendung zum Kampf gegen jede Form des Nationalismus, speziell des russischen.

Seine Zukunftsvision ist die Wiederherstellung einer neuen Sowjetunion. Er träumt von einem multikulturellen Staatsgebilde, »wie die EU, nur eben kommunistisch«. »Das würde«, so meint er, eine »friedliche und stabile Entwicklung des nordeurasischen Großraumes gewährleisten.«

»Die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg«, diese Losung Lenins aus Zeiten des Ersten Weltkrieges hält Golyschew im heutigen Russland für genauso anwendbar. Damals bedeutete es, dass durch die Leiden des ersten Weltkrieges, die russische Revolution möglich wurde, samt Bürgerkrieg, welcher die Macht der Bolschewisten festigte. Begeistert spricht Golyschew über eine neue rote Welle, und meint damit, dass heute über oft in den anscheinend befreiten ostukrainischen Orten eine rote Flagge gehisst wird.

»Ein Bürgerkrieg«, widerspreche ich ihm, »herrscht im Donbass doch schon seit acht Jahren! Solche Zustände will ich in Russland nicht sehen. Der russische Staat, unvollkommen wie er ist, beschützt zumindest sein Volk vor der schlimmsten Barbarei. Die laufende Spezialoperation ist außerdem kein totaler Krieg wie damals. Sie verläuft ohne Millionen von Rekruten, die ihre Waffen gegen die eigene Regierung wenden könnten. Möge die Muttergottes uns davor bewahren.« »Noch hast du recht. Anders wäre es im Falle einer totalen Mobilmachung«, erwidert Wladimier Golyschew mir augenscheinlich hoffnungsvoll. 


LINKE
PATRIOTEN


Die Töne, die ich auf der Sankt-Petersburger Konferenz der Patriotischen Linken höre, klingen anders. Man trifft sich in der Parteizentrale der kleinen Russischen Kommunistischen Arbeiterpartei, die unter einem Dach mit dem polizeieigenen Kampfsportverband ansässig ist. Den Gast aus Deutschland empfängt man mit aufrechter, proletarischer Freundlichkeit. Die Parteikader fragen mich, wie es bei uns so um den Klassenkampf steht und schenken mir einen Kalender mit Che Guevara und Stalin. Die faschistischen Banden in der Ukraine und die Nato sind für sie eingefleischte Feinde, deshalb unterstützt man hier die Militäroperation der sonst verhassten Regierung ohne Wenn und Aber. Eine weitere bei der Konferenz vertretene Gruppe sind die Anhänger des verstorbenen Dichters Eduard Limonow: die Nationalbolschewisten. »Hochnäsig, volksfremd, unzivilisiert, geistig behindert«, sind nicht die krassesten Beleidigungen, mit denen Limonow die Moskauer Machthaber und Putin betitelte. Dennoch galt für ihn als oberste Direktive: »Für jeden russischen Bürger gilt: Bei allen internationalen Konflikten, egal, wer die Gegner sind, egal, wer das Land regiert, stell dich bedingungslos auf die Seite Russlands!« So halten es heute seine Anhänger immer noch. Eine weitere Stimme auf der Konferenz: »Die Geschichte hat den Weißgardisten Recht gegeben, die vorher gegen die Sowjets auf Leben und Tod kämpften, aber im Zweiten Weltkriegs ihren Kampf einstellten und die Rote Armee unterstützten«, erklärt mir Oberst W. W. Kwatchkow. Er saß wegen eines versuchten bewaffneten Aufstandes mehrere Jahre hinter Gittern. Man kann ihn nicht als Putin-Freund bezeichnen. Sein Anliegen der Stunde ist aber kein »Volksaufstand gegen die von der Hochfinanz eingesetzte Okkupationsverwaltung«, wie er die Regierung gerne nennt, sondern »die totale Mobilmachung« der russischen Gesellschaft.


SONDEROPERATION STATT
GENERALMOBILMACHUNG


Der Wille zum »Totalen Krieg« ist in der linken wie in der rechten Opposition erkennbar. Die bei der Operation eingesetzten Streitkräfte sind den Ukrainern gegenüber eindeutig in der Unterzahl. Damit konnte Putin, wie einige es von ihm erwartet hätten, keinen Blitzkrieg führen.

Dennoch vermute ich Putins Absichten zu verstehen. Immer wieder nennt er den Namen eines Denkers, unter dessen Einfluss er am meisten steht. Nicht Alexander Dugin, den neurechten Influencer, den man im Westen gern als »Putins Rasputin« inszeniert, ja, der sich selbst gern für diese Rolle inszenieren lässt. Der Autor, dessen Schriften für das politische Denken Putins maßgeblich sind und den Dugin, nebenbei bemerkt, nie erwähnt, ist der Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn. Er ist Autor des Buches »Archipel Gulag«, welches Vladimir Putin zur Pflichtlektüre in den Schulen erklärte. Ohne das Fremde abzuwerten, steht Solschenizyn für das Eigene und für russische Leben, die zählen. Diese erzkonservative Haltung macht ihn dennoch zu keinem notorischen Zaristen. Solschenizyns Schriftwerk beinhaltet harsche Kritik an den Zaren, die die eigenen Bürger aufgrund eines messianischen Hirngespinstes zugunsten fremder Mächte kämpfen und sterben ließen. Weder der Feldzug mit den alten Häusern Europas gegen Napoleon, noch zahlreiche »Befreiungen« irgendwelcher »Brudervölker«, die sich anschließend als undankbar erwiesen haben, waren aus seiner Sicht gerechtfertigt. »Russian Lives Matter«, würde ein bekannter Bürger des Staates Vermont zu Solschenizyn sagen: »Russia first«. Das Gebot scheint ebenso für Putin zu gelten. Die Ziele, die er für jede seiner Kampagnen setzte, waren stets klar, pragmatisch, erreichbar unter Verlust von möglichst wenigen Menschenleben. Da die laufende Spezialoperation dem gleichen Muster folgt, bleibt die Wahrscheinlichkeit einer in der Ukraine und im Westen prophezeiten landesweiten Mobilmachung gering.

»Ich will nicht für Putin sterben!«, eine Ansage, die ich von jungen Moskauern zuweilen höre, beantworte ich mit: »Er will das ebenfalls nicht.« Diese Auffassung setzt sich teils unbewusst in breiten Schichten im Volk durch. Die gegen das Land verhängten Sanktionen haben die Mehrheit nicht betroffen. Nach einer Schwankung im März ist der Rubel gestärkt. Der Verbraucherpreisindex verzeichnet eine beneidenswerte Stabilität. Anhand einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Levada genießt Putin eine Zustimmung von 83 Prozent. Die Zustimmungsrate ist während der Spezialoperation um 17 Prozent gestiegen.

Ob man alles auf Rot setzt oder diese Farbe verabscheut, es ist kein Umsturz im Land in Sicht. Westliche Sanktionen haben den gegenteiligen Effekt, einen den die Politikwissenschaft als »Rally’round-the-Flag« bezeichnet, das Versammeln um die Flagge. Und deren Farben bleiben: Weiß-Blau-Rot.



Ilia Ryvkin (Jahrgang 1974) in Russland geboren und aufgewachsen ist Berliner Bühnenautor und derzeit DW-Korrespondent in Osteuropa.











Dieser Text erschien in Ausgabe N° 92




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