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Schokomousse mit Merkel

Stephan Harbarth: Wer ist der umstrittene Jurist, der seit Mai 2020 Vorsitzender des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe ist? Von Sophia Fuchs

Von Sophia Fuchs

Die folgende Geschichte stimmt nicht. Am besten, sie vergessen Sie gleich wieder.




Der junggebliebene Endvierziger schwitzte in seinem Sakko, obwohl die Klimaanlage im Restaurant gut funktionierte. Kleine Schweißperlen sammelten sich unter der Nase. »Sie haben ein Problem, Herr Anwalt«, flüsterte ihm sein Gegenüber zu. »Sie stecken in der Tinte. Sie haben sich mit den falschen Leuten eingelassen. Zuerst Cum-Ex, dann Dieselskandal. Da kommen Sie nicht mehr raus ... Künftig werden Sie Ladendiebe verteidigen und Scheidungen machen. Aber ob das reicht für die Privatschule Ihrer Kinder? Und die Villa ist auch noch nicht abbezahlt ...« – »Ich weiß, ich bin am Ende. In meiner Partei komme ich auch nicht weiter nach oben.« Mit einem  unschuldigen Aufschlag seiner braunen Augen bettelte er um einen Ausweg. »Oder haben Sie eine Lösung?« Der andere ließ sich Zeit. »Ich hätte da ein Angebot, das Sie nicht ausschlagen können. Allerdings müssen Sie sich für längere Zeit verpflichten.«


LOBBY IST AUF
DEM RICHTERSTUHL


Wie gesagt: Diese Geschichte ist nicht wahr. Aber viele Puzzleteile passen. Tatsächlich hatte sich der Rechtsanwalt Stephan Harbarth mit fragwürdigen Leuten eingelassen. Sein ganzes Erwachsenenleben lang war der Heidelberger ein braver CDU-Hinterbänkler gewesen. Schon als Jugendlicher trat er 1987 der Jungen Union, dann 1993 der CDU bei. Zwölf Jahre saß er für die Schwarzen im Bundestag, brachte es bis zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden – eine Art Frühstücksdirektor ohne jeden Einfluss, denn diesen Titel dürfen gleich 12Unionisten führen, und keiner wird deswegen auch nur in eine Talkshow eingeladen. Nebenbei aber machte der Yale-Absolvent ein Vermögen als Anwalt. Jedes Jahr kassierte Harbarth über eine Million Euro aus sogenannten Nebeneinkünften. Geld, das bis heute Fragen aufwirft. Das Handelsblatt kritisierte im Mai 2020: »Im Parlament gehörte er (...) mit jährlichen Nebeneinkünften von deutlich mehr als 250.000 Euro zu den Topverdienern. Mehr Transparenz schreibt das Abgeordnetengesetz nicht vor. Offen bleibt die Frage, wie er diesen anspruchsvollen Job neben seinem Bundestagsmandat ausüben konnte.« Mit diesem Gschmäckle war Harbarth eigentlich nicht für höchste Ämter geeignet. Das änderte sich erst, als ... Dochlesen Sie selbst.

Wenn der angeblich gläubige Katholik vor der Kamera steht, zeigt er sein höflichstes Lächeln und schränkt die Hände bescheiden ineinander. Dabei ist der Mann mit den dichten schwarzen Augenbrauen und angegrauten Haaren alles andere als ein gewöhnlicher Politiker. Ganze acht Jahre war Harbarth als Anwalt in der Wirtschaftskanzlei Schilling, Zutt & Anschütz tätig – in genau jener Sozietät, die mit ihrem zeitweiligen internationalen Partner Shearman & Sterling die Cum-Ex-Betrügereien austüftelte. Der Fiskus wurde dabei um 31,8 Milliarden Euro geprellt. Harbarths Rolle ist bis heute im Dunkeln geblieben. Noch bevor die kriminellen Steuertricks ans Licht der Öffentlichkeit kamen, gründete sich das Mannheimer Büro der Kanzlei als SZA Schilling 2008 neu – mit Harbarth als Partner, zeitweise als Mitglied der Geschäftsführung. Trotzdem (oder gerade deswegen?) genießen die Wirtschaftsjuristen deutschlandweit bis heute einen ausgezeichneten Ruf. Harbarths Bezüge aus dieser Tätigkeit sollen im Jahr 2018 auf »mehr als 400.000 Euro, vermutlich sogar gut das Doppelte« gestiegen sein, meldete das Nachrichtenportal T-Online.

Die Verstrickung von Eigeninteressen und Mandat beziehungsweise Amt sind ein Muster, auf das man bei dem heute 50-Jährigen immer wieder stößt. Knapp dem Cum-Ex-Skandal entkommen,schlitterte Harbarth in den nächsten. Seine Kanzlei übernahm 2015 die Vertretung von VW in der Abgasaffäre. Ein lohnender Auftrag. An einer Verteidigung des deutschen Autobauers mag an sich nichts auszusetzen sein. Doch eigentlich hätte der Fall der späteren Wahl des Juristen zum obersten Verfassungsrichter im Wege stehen müssen, in Karlsruhe sollte nämlich ausgerechnet er ein unabhängiges Urteil über die Affäre sprechen. Trotzdem stieg er nach den Skandalen weiter auf, denn er hatte Vitamin B.


GUTER DRAHT
NACH OBEN


Mit Angela Merkel verbindet Harbarth mehr als nur die zurückhaltende Art und das bescheidene Lächeln: Sie machte im Februar 2016 vor 1.400 Leuten in seinem
Wahlkreis Rhein-Neckar Wahlkampf mit ihm – er boxte ihre Flüchtlingspolitik durch die Unionsfraktion und hielt eine flammende Rede zum Migrationspakt. Für sein Loblied auf den Asyl-Deal erntete er tosenden Applaus von den Altparteien. Locker aufs Rednerpult gelehnt, stempelte er die AfD als Angstmacher ab und mahnte in kurpfälzischem Singsang, den Zeigefinger erhoben: »Wer gegen den Pakt stimmt, ist gegen das nationale Interesse Deutschlands.« Harbarth schrieb sogar einen Beitrag in dem Merkel-Fanbuch Die hohe Kunst der Politik, herausgegeben von der früheren CDU-Ministerin Annette Schavan im Jahr 2021, um der »Jahrhundertkanzlerin« ein literarisches Denkmal zu setzen. Auf dem Weg an die Spitze des Bundesverfassungsgerichts waren ein paar Hürden zu nehmen. Zu den ungeschriebenen Regeln für das Amt des wichtigsten Richters der Republik gehört es, einen Professorentitel mitzubringen. Die Heidelberger Universität fungierte als Steigbügelhalter und gab Harbarth im Jahr 2018 den nötigen Segen zum Honorarprofessor. Das blieb nicht ohne juristisches Nachspiel: Selbst sein CDU-Parteifreund und Berufskollege Claus G. Schmitz witterte Betrug und schoss öffentlich gegen ihn. Die Ernennung sei ein abgekartetes Spiel gewesen, um dem Merkel-Günstling den Weg nach Karlsruhe zu ebnen. Was kaum einer weiß: Harbarths Wirtschaftskanzlei pflegte gute Kontakte zur Universität. Und nicht nur das, sie verfügten sogar über eine gemeinsame Stiftung ... Doch Schmitz‘ Klagen liefen ins Leere.

Damit war Harbarths Aufstieg nicht mehr zu bremsen. Im November 2018 wurde er Richter am Bundesverfassungsgericht, im Juni 2020 sogar dessen Präsident. So  unauffällig der Heidelberger als Politiker gewesen war, so spektakulär waren in der Folge seine Karlsruher Urteile. Gleich im August 2020 sorgte sein Durchwinken der GEZ-Beitragserhöhung für Empörung: Statt 17,50 Euro waren 18,36 Euro monatlich zu zahlen – das ergibt eine satte Summe von über 400 Millionenzusätzlich pro Jahr. Im April 2021 verpflichtete Karlsruhe den Staat zu rigorosem Klimaschutz. Demnach muss der Bundestag bis Ende 2022 einen konkreten Plan verabschieden, wie die Treibhausgase über 2030 hinaus gesenkt werden, damit die Erderwärmung unter dem Wert von zwei Grad Celsius gehalten werden kann. Begründet wurde das Urteil mit der Generationengerechtigkeit. Damit löste er vor allem bei den Klimaaktivisten um Luisa Neubauer Jubel aus. Vielleicht witterte Harbarth mit Blick auf die Riesendemos schon damals, dass die Grünen in der nächsten Regierung sein würden.

Knallhart wies er im November 2021 nach monatelangem Schweigen alle Einsprüche gegen sogar schärfste Corona-Maßnahmen (Bundesnotbremse, Schulschließungen, Niederschlüsse) zurück. Ganz anders äußerte sich Udo Di Fabio, von 1999 bis 2011 selbst Richter am Bundesverfassungsgericht, im selben Monat angesichts der Polarisierung der Gesellschaft. »Es tauchen in neuem Gewand alte Muster wieder auf: eifernde Züge eines Glaubenskampfes, der Andersdenkende nicht als nur mehr Gegner, sondern als Feind betrachtet und mit Hass verfolgt», sagte der 67-Jährige. Harbarths Urteil war dagegen ein Freifahrtschein für diktatorische Eingriffe der Exekutive und damit ein verheerendes Signal gerade im Hinblick auf eine Spaltung der Gesellschaft durch die drohende Impfpflicht.

Die Judikative, die die Exekutive kontrollieren soll und dies in der Vergangenheit auch oft tat, ist offensichtlich zu deren Erfüllungsgehilfen geworden. Wie konnte es so weit kommen? Ein Grund: weil mittlerweile Judikative und Exekutive gemeinsam zu Abend essen.


DAS PIKANTE
PROMI-DINNER


Im Juli 2021 musste Harbarth sein erstes Urteil über seine ehemalige Parteichefin sprechen: Merkel wurde von der AfD die Verletzung des Neutralitätsgebots der Bundesregierung vorgeworfen. Hintergrund war ihre Forderung nach Rückgängigmachung der Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen im Februar 2019.

Wie es der Zufall will, lädt Merkel im Vorfeld der Entscheidung, am 30. Juni 2021, zu einem Dinner ins Kanzleramt ein. Unter ihren Gästen sind höchste Politiker und Robenträger. Mit am Tisch: Stephan Harbarth sowie weitere Richter des zweiten Senats, die drei Wochen später die Klage gegen die Regierungschefin verhandeln sollen. Nicht die mächtige Gastgeberin ist es jedoch, die die Themen des Abends auswählt. Harbarth bestimmt das Programm und wechselt sogar geplante Redner aus. Was genau bei Antipasti, Rindergeschnetzeltem, Käseplatten und Schokoladenmousse besprochen wurde, wissen wir nicht. Was wir hingegen wissen: Bei dem fragwürdigen Bankett stimmte die damalige Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) eine Hymne auf die Corona-Maßnahmen an und gab Handlungsempfehlungen für die Zukunft. Auffällig: In Harbarths späterem Karlsruher Urteil zur Absegnung der Einschränkungen taucht sechs Mal genau der Begriff auf, mit dem Lambrecht ihre Rede untermauerte: »tatsächliche Unsicherheiten.« Steckt in der eingangs erwähnten Geschichte über ein entscheidendes Abendessenalso doch ein Fünkchen Wahrheit?

Eigentlich müsste das Bundesverfassungsgericht den Bruch des Grundgesetzes durch die Corona-Maßnahmen verhindern, aber genau das passiert nicht. Verantwortlich ist ein Mann, der unscheinbarer wirkt, als er ist.


DIE UNERWÜNSCHTE
WAHL


Anfang Februar 2020 verkündete Kanzlerin Angela Merkel von Südafrika aus, die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Thüringer Regierungschef sei »unverzeihlich« und müsse »rückgängig« gemacht werden. Der Liberale hatte es gewagt, sich auch mit Stimmen der AfD vor seinem linken Konkurrenten Bodo Ramelow wählen zu lassen. Kurz darauf trat Kemmerich zurück, alles war wieder beim Alten – aber die AfD reichte Klage in Karlsruhe ein. Mit der Einmischung der Kanzlerin in die Kompetenzen eines Landesparlaments habe sie die ihr gebotene Neutralität verletzt. Nun lag es am Bundesverfassungsgericht unter Harbarths Vorsitz, Merkels Verhalten zu überprüfen. Gegen die Richter stellte die AfD einen Befangenheitsantrag wegen des gemeinsamen Abendessens im Kanzleramt, das während der laufenden Verhandlungen gegen Merkel stattgefunden hatte.


Sophia Fuchs (*2002) ist seit Januar 2022 in Vollzeit in der Redaktion des Magazins Compact, moderiert das Internetfernsehformat COMPACT.Der Tag. DW kaufte diesen Text zum Abdruck aus Compact 2/2022 an, weil er zur Aufklärung einer der entscheidensten Figuren für das Corona-Regime in Deutschland beiträgt.






Dieser Text erschien in Ausgabe N° 79




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