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Glosse

Lenz meets Schlingensief

Von Werner Köhne

»Schlagt ihn tot. Er ist ein Rezensent!« – Aber gemach: Das war vom Dichterfürsten Goethe nur metaphorisch gemeint und kein Aufruf zum Mord.




Ebenso letztlich friedfertig eingefügt in die Mehrdeutung der Realität war André Bretons Forderung, »mit der Pistole in der Hand auf die Straße zu gehen und in die Menge zu schießen«. Das tat von den Surrealisten keiner, wohl aber so mancher wild gewordene Kleinbürger.

Und heute? Metaphern und dadaistische Wortspiele haben es schwer in einer Zeit, in der die Sprache machtzentriert auf geistesfeindliche Eindeutigkeit getrimmt wird. Eine Strategie, die im Coronaszenario zu manchen Verwerfungen führt. Der Herausgeber dieser Zeitung, Anselm Lenz, hatte vor etwa 14 Monaten im Rahmen einer öffentlichen Theateraktion am Amphitheater Mauerpark folgendes Wanted zelebriert: »Wer tötet Angela Merkel? Ich setze ein Kopfgeld auf sie aus.« Dafür muss er sich nun ein zweites Mal am 8. November 2021 beim Amtsgericht Tiergarten verantworten.

Lenz verweist auf die Freiheit der Kunst; er habe lediglich Christoph Schlingensief zitiert und dies auch vor und nach dem Zitat deutlich gesagt. Schlingensief hatte eine ähnliche Aktion 1996 mit dem Aufruf »Tötet Helmut Kohl«. Dazu empfahl Schlingensief Millionen von Arbeitslosen, im Wolfgangsee baden zu gehen, auf dass der dort Urlaub machende Kanzler im überschwemmten Gebiet ertrinke.

Dem Zeitbeobachter fällt auf, dass Schlingensiefs Action Directe damals auf der Kasseler Documenta noch nicht die dritte Gewalt auf den Plan rief. Der Grund dafür lag im Konsens, dass es sich hier um Kunst handle, wobei der Zeitgeist des Anything goes mithalf. Der Fall schlug politisch keine so hohen Wellen wie bei Lenz, dem ersten Gründer der Demokratiebewegungen weltweit, der übrigens auch bepreis ter Theaterdramaturg war (und ist) – und darob wenig Theater macht.

Schlingensief wurde gar zum »genialen Bilderproduzenten« und »unwiderstehlichen« Ausnahmekünstler erklärt und zu den Wagnerfestspielen nach Bayreuth berufen. Nun jedoch wird von plumpen Kunstverleugnern unter dem schwülen Himmelsdach des Coronaszenarios das Wort wieder wörtlich fixiert – der Tod jeder Kunst und Poesie. Wir wissen: Von da an wird’s gefährlich. Solidarität mit Anselm Lenz ist also Bürgerpflicht.



Köhne, Autor der »Minima Mortalia«, geht auf Lesereise. Einladungen willkommen: wernerpaulkoehne@gmail.com




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 67 am 29. Okt. 2021




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