DER LETZTE SCHREI DER PFLEGER

Die Beschäftigten von Charité und Vivantes streiken. Sie wollen nicht nur mehr Lohn, sondern endlich normal leben. | Von Hermann Ploppa

Von Hermann Ploppa

Die Gelegenheit ist außer­ ordentlich günstig, um auf die – sagen wir mal – schwierigen Bedingun­gen der Berliner Beschäftigten im Pflegebereich aufmerksam zu ma­chen. Denn am 26. September wer­ den zeitgleich zur Bundestagswahl auch das Berliner Abgeordneten­haus und die Bezirksparlamente der Hauptstadt neu gewählt. Dazu kommt ein Volksbegehren zur Ent­eignung privater Mietwohnungs­gesellschaften.



Die Dienstleistungsgewerkschaft verdi organisiert die Streiks im Bereich der kommunalen Krankenhausgesellschaft Vivantes mit ihren 17.000 Mitarbeitern. Auch die durch perma nente Christian Drosten-Episteln weltweit bekannt gewordene Universitätsklinik Charité mit ihren 18.700 Mitarbeitern tritt in den Ausstand. Das Ganze ist schön gestaffelt nach Abteilungen, so dass jede Station nur einen Tag bestreikt wird und die Härten sich für die Patienten einigermaßen in Grenzen halten. Die beiden Krankenhaus-Giganten sind zwar (noch) nicht privatisiert, aber auch hier greift das gängige Muster privatisierter Unternehmen: Das Konglomerat ist in unzählige Subunternehmen aufgesplittet, um für möglichst viele Arbeitsbereiche den Tarifvertrag im Öffentlichen Dienst (TVÖD) zu vermeiden. Nun geht es im Streik zum großen Teil darum, dass die weniger Verdienenden aus den Subunternehmen auch in den Genuss des TVÖD gelangen möchten. Zudem wird hier um eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 39 Stunden und um 30 Tage Urlaub im Jahr gekämpft.

Sieht also auf den ersten Blick wie ein stinknormaler Arbeitskampf aus. In Wirklichkeit geht es aber vielmehr darum, den extremen Verfall in der Qualität der Arbeitsplätze wieder rückgängig zu machen. Und so spricht selbst der verantwortliche Berliner Finanzsenator Matthias Kollatz von der SPD die Qualitätsfrage an: »Ein Lösungsweg könnte die Reform der Fallpauschalen sein.« Nun ja, Gespräche mit den Beschäftigten im Gesundheitsbereich ergeben, dass der Leidensdruck erst mit der Einführung der Fallpauschale im Jahre 2003 so richtig an Fahrt aufgenommen hat. Seitdem haben es die Pflegenden zunehmend nur noch mit den harten Fällen zu tun, die sie mit immer weniger Kollegen versorgen müssen.


DIE INSTRUMENTALISIERUNG
DES PFLEGENOTSTANDES


Das war schon hart genug. Die Einführung des Corona-Notstandes machte aus der Qual allerdings eine Folter. Die Kollegen müssen den ganzen Tag diese unsäglichen Masken aufsetzen, müssen in ständigen Plastikumhüllungen Eimer vollschwitzen. Und wenn ein Corona-Fall auftritt, müssen sie in Quarantäne. Sie fallen aus, und die Kollegen müssen außer der Reihe für sie »einspringen«, das heißt: Außer ihren regulären Schichten auch noch unangekündigt die Schichten anderer Pflegenden übernehmen. Logisch, dass auf diese Weise das Familienleben zerrüttet wird. Ebenfalls logisch, dass allein im Sommer 2020 über 9.000 Kollegen kündigten und die Arbeitslosigkeit der Hölle im Krankenhaus vorzogen.

Pflegende in Krankenhäusern bleiben im Schnitt 13,7 Jahre in ihrem Beruf, in der Altenpflege sind es sogar nur 8,4 Jahre. Dabei handelt es sich um einen sehr anspruchsvollen Fachberuf mit einer relativ langen Ausbildungsdauer. Zudem herrscht eine schreiende Geschlechterungerechtigkeit. Frauen verdienen in Pflegeberufen zwischen zehn und 25 Prozent weniger Gehalt als ihre männlichen Kollegen. Hier reichen konsequente Tarifkämpfe nicht mehr aus. Gerade vor der Bundestagswahl, die ja auch Raum gibt für grundlegendere Fragestellungen, sollte der Arbeitskampf deutlich vernehmbar die Qualität des Arbeitsplatzes einfordern.


KRISEN- UND FLUCHTURSACHEN BEKÄMPFEN


Konkret heißt das: Das Rentabilitätsdenken, das auch kommunale Krankenhäuser mittlerweile fest im Würgegriff hält, muss sofort beseitigt werden. Krankenhäuser sind Einrichtungen des öffentlichen Versorgungsauftrags. Sie müssen so viel Geld und Personal erhalten, wie es die Situation erfordert. Die infame Fallpauschale muss abgeschafft werden. Die Politiker müssen garantieren, dass alle Krankenhäuser und Pflegeheime wieder in öffentliche oder karitative Trägerschaft zurückgeführt werden. Das alles ist finanzierbar, wenn der Staat endlich gewillt ist, jene 100 Milliarden Euro energisch einzutreiben, die Steuerflüchtlinge und Steuervermeider uns jedes Jahr stehlen. Es muss Gesundheitsarbeitern wieder möglich sein, ihr gesamtes Erwerbsleben im Pflegebereich zu verbleiben, und zwar mit Freude und mit Dankbarkeit durch die gesamte Gesellschaft.







Dieser Text erschien in Ausgabe N° 62




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