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Die Kritischsten und Klügsten müssen sich äußern! — Der Journalist Peter Nowak wägt ab, warum die ansonsten mit Kritik am Obrigkeitsstaat nicht sparsame Intelligenz von links gegen das Corona-Regime nur so langsam anspringt — oder gleich ganz versagt.

Corona? Diktatur?

Von Peter Nowak

Die Corona-Krise beeinflusst seit Monaten das Leben von Milliarden Menschen auf aller Welt. Massive Einschränkungen der Freiheitsrechte und der Drang zu einer autoritären Staatlichkeit gehören zu den Begleiterscheinungen. In Deutschland war der 14. März der Tag des Shutdowns. Seitdem entscheiden Staatsapparate, was relevant ist und was nicht. Nicht relevant sind natürlich auch alle öffentlichen Versammlungen, wie Demonstrationen, Kundgebungen oder Veranstaltungen jeder Art. Stadtteilzentren mussten schließen, wie Buchläden. Eigentlich würde man sich einen Aufschrei des Protestes von einer linken Bewegung erwarten, die in Deutschland sicher schwach ist, aber sich noch artikulieren kann, wenn Staatsorgane Einrichtungen schließen oder Proteste verbieten. Doch im Zeichen von Corona ist auch in der linken Bewegung die Verunsicherung groß. Es gibt Stimmen, die härtere Beschränkungen als Akt der Solidarität mit schwächeren Teilen der Bevölkerung fordern und Kritiker*innen der Notstandsmaßnahmen sogar schon mit dem neuartigen Begriff des Corona-Leugners belegen. Hier sollen einige Positionen der Befürworter*innen und der Kritiker*innen der Maßnahmen vorgesellt werden.


1. Warum dieser Shutdown?

Die Befürworter*innen der massiven Einschränkungen begründeten die Maßnahmen mit der besonderen Gefährlichkeit des Virus, der nach jüngeren Meldungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zehnmal tödlicher als die Schweinegrippe sei. Daher plädiert die WHO für eine Fortsetzung der Separierungsmaßnahmen und kommt zu dem Schluss, dass nur durch einen effizienten Impfstoff der Virus gestoppt werden kann. Dem können wohl Befürworter*innen und Kritiker*innen der Maßnahmen zustimmen.

Die Staatsapparate, die sich für den Shutdown entschieden, begründen ihre Maßnahmen damit, dass es gelte, Zeit zu gewinnen, bis entweder der Impfstoff oder ein wirkungsvolles Medikament gegen Corona zur Verfügung steht. Das Wichtigste sei, den Ausbruch so zu verlangsamen, dass möglichst wenig Corona-Erkrankte auf einmal medizinisch versorgt und beatmet werden müssen.

Denn dann drohe das Gesundheitssystem zu kollabieren und es könnten Situationen wie in Italien und Frankreich eintreten, wo Patient*innen nicht behandelt werden konnten. Die einzige Möglichkeit, eine solche Situation zu verhindern, bestehe nach Meinung der die Bundesregierung beratenden Wissenschaftler*innen darin, soziale Kontakte reduzieren, wo es nur geht.

Für dieses Social Distancing werben Wissenschaftler*innen und Politiker*innen seit Wochen. Es sollten sich derzeit so wenige Menschen wie möglich mit Sars-CoV-2 anstecken, um Zeit zu gewinnen. Tage und Wochen, die helfen können, Kliniken, Pfleger*innen und Ärzt*innen zu entlasten.

Nur wenn jede und jeder Kontakte meide, sinke die Wahrscheinlichkeit, dass vor allem unentdeckte Infizierte mit nur leichten Symptomen all jene Personen anstecken, die schwer an Covid-19 erkranken können. Das sind die vielzitierten Risikogruppen, für die eine Ansteckung tödliche Folgen haben kann.

Dabei handelt es sich nicht nur um ältere Menschen, sondern auch um Menschen allen Alters mit Vorerkrankungen. Es wäre also tatsächlich keine Lösung, wenn jetzt manche wohlhabende Senior*innen in der Taz einen Aufruf lancieren, dass sie sich freiwillig in Quarantäne zurückziehen und so den Rest der Gesellschaft ein Ende des Shutdowns ermöglichen.

Davon abgesehen, dass Menschen in Altersarmut eine solche Quarantäne wesentlich schlechter ertragen, als wohlhabende Senior*innen, es sich also auch mal wieder um eine Klassenfrage handelt, wären dann auch viele andere sogenannten Risikopatient*innen eingeschlossen und ihrer Selbstbestimmung beraubt. An diesen Punkt trifft tatsächlich die Kritik der mangelnden Solidarität, wenn die Stimmen der Betroffenen, die sich bereits unter #Risikopatienten zu Wort gemeldet haben, nicht gehört werden.

2. Von Flatting the Curve zu Stop the Spread

Der Shutdown wurde mit der Aufforderung »Flatting the Curve«, also dem Abflachen der statistischen Infektionskurve, begründet. Damit wurde zu individuellen Maßnahmen — Bleibe zu Hause! Halte Abstand! — aufgefordert, um die Kurve der Neuansteckungen zu minimieren. Einige Wissenschaftler*innen bezeichnen diese Schritte als erste Maßnahme zur Unterbrechung der exponentiellen Ausbreitung des Corona-Virus.

Im nächsten Schritt seien weitere Aktionen erforderlich, um den Erfolg nachhaltig zu gestalten. Unter dem Motto Stopthespread, das heißt, »verhindere die Verbreitung«, sollen nun kollektive Maßnahmen durchgeführt werden. Dazu gehören Maßnahmen wie die Absage von Events, der Verzicht auf Reisen oder die Möglichkeit der Heimarbeit.

Bei allem handelt es sich um Maßnahmen, die deutlich über das sogenannte Social Distancing hinausgehen, und die wir auch seit dem Shutdown selber kennen gelernt haben.

Dabei hat sich allerdings in den letzten Tagen die Diskussion verändert. Wurde zu Beginn des Shutdowns die Maßnahme noch als temporäre Einschränkung des öffentlichen Lebens diskutiert, stimmen Wissenschaftler*innen und Politiker*innen die Bevölkerung jetzt darauf ein, dass eine Rückkehr zur Zeit vor dem Corona-Virus so schnell nicht erfolgen wird. Jedenfalls nicht für den Bereich von Freizeit, Kultur und der Aktivitäten im öffentlichen Raum.

Deshalb wird jetzt häufiger die Gefahr betont, die darin bestünde, wenn die Gesellschaft der Ansicht sei, die Ansteckungskurve habe sich nun abgeflacht und daher sei die ursprüngliche Gefahr nicht mehr so relevant und die getroffenen Vorkehrungen könnten aufgehoben werden. In diesem Fall könnte es zu einem schweren Rebound, einem Rückfall kommen, der dem Virus neue Möglichkeiten zu einer erneuten exponentiellen Verbreitung geben würde.

Diese vermeintliche Gefahr dürfte in der nächsten Zeit eine große Rolle spielen, zumal auch Wissenschaftler*innen davon ausgehen, dass der Virus auf die Jahreszeiten unterschiedlich reagiert. So könnte eine Minimierung der Ansteckung im Sommer ein Wiederanstieg im Herbst und Winter folgen. Auf die Art könnte der Corona-Virus wie ein ständiges Damoklesschwert über der Gesellschaft hängen und entsprechend immer wieder Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und der Grundrechte zur Folge haben.

3. Gegenpositionen

Diesen dystopischen Aussichten widersprechen andere Wissenschaftler*innen, die deswegen die Gefährlichkeit des Virus nicht infragestellen. Doch sie fordern eine öffentliche Auseinandersetzung über die unterschiedlichen Erkenntnisse und Standpunkte ein.

Denn nur so ist eine informierte, sachliche Auseinandersetzung über die Sinnhaftigkeit des Shutdowns und der Folgen möglich. Diese Ausführungen sollen einen Anspruch einlösen, den das linke Praxiskollektiv Reichenbergerstraße 121 in Berlin-Kreuzberg auf ihrer Corona-Sonderseite prägnant so zusammengefasst hat (praxiskollektiv.de/aktuelles-zur-coronakrise):

»Wir sind der Meinung, dass aufgeklärte Menschen sehr wohl zu einerEinschätzung der Gefahr und einer Schlussfolgerung für den Umgang damit in der Lage sind. Eine Schwierigkeit dabei ist der große Grad der Ungewissheit, der auch bei Wissenschaftlern besteht. Auch hier geht es nicht nur um die Ungewissheit zum Verlauf der Pandemie, sondern auch um die Ungewissheit bezüglich der Wirkung und Nebenwirkung der erforderlichen Maßnahmen.
Wir halten es allerdings für fatal, unsere Selbstbestimmung im Angesicht dieses Schockriskios aufzugeben. Das Leben und das Schicksal der Gesellschaft autoritär allein in die Hände von gerade Regierenden und ihren Berater*innen zu legen, ist sicherlich niemals eine gute Idee.«

Das ist natürlich auch eine klare Absage an rechte und verschwörungstheoretische Gruppen und Einzelpersonen, die sich in den letzten Wochen an die Proteste gegen den Corona-Notstand dranhängen wollen. Rechte Ideologie ist per se mit autoritärer Staatlichkeit und Repression gegen Linke sowie als Minderheiten und Nichtdeutsche gelabelte Menschen verbunden. Daher kann es auch bei der Kritik am Corona-Notstand keine Kooperation mit ihnen geben.

Sehr prägnant hat Dr. Clemens Heni in mehreren Beiträgen auf seinem Blog die Stimmen der rationalen Kritiker*innen einer derzeit herrschenden »Volksgemeinschaft und Gesundheitsdiktatur« stark gemacht. Heni hat in seinem Text überzeugend kritisiert, dass Panik eben keine gute Grundlage für eine rationale Bewertung und Analyse ist — und die Daten über sterbende Menschen für sich genommen keine Aussage über die Gefährlichkeit der Pandemie erlaubt.

Heni legt dar: »Täglich sterben laut Statistik 2.500 Menschen in der Bundesrepublik, die übergroße Mehrheit ist logischerweise über 65 Jahre alt. Täglich 2.500, im Winter etwas mehr, in den anderen Jahreszeiten weniger. Das macht circa 900.000 Tote in der Bundesrepublik Deutschland jedes Jahr. Das ist kein Schock und kein Skandal. Genauer gesagt: jeder Tod ist ein Skandal – aber er führt nicht dazu, dass alles angehalten wird und damit viele, unzählige andere Menschen in Todesgefahr gebracht werden.«

Damit ist sich Heni einig auch mit vielen Naturwissenschaftler*innen, die keinesfalls das Corona-Virus ignorieren und verharmlosen, aber die getroffenen Maßnahmen als nicht wissenschaftlich begründet ansehen. Es folgt eine kleine Auswahl dieser kritischen Stimmen. Dabei sollte auch berücksichtigt werden, dass es möglich ist, dass manche der zitierten Wissenschaftler*innen ihre Einschätzungen später modifiziert haben können. Es spricht gerade für ein kritisch-rationales Herangehen an die Corona-Krise, dass es, wie das oben zitierte Praxiskollektiv festgestellt hat, viele Fragen und Unklarheiten gibt. Und dass man auch im Lichte eigener empirischer Befunde Positionen infrage stellen kann.

4. Die Stimmen der Kritiker*in-nen

Der Immunologe und Toxikologe Professor Dr. Stefan Hockertz erklärt in einem Radiobeitrag, dass er Covid19 nicht gefährlicher als Influenzaviren einschätze und hält die Maßnahmen für völlig überzogen und unverhältnismäßig. Die Bilder aus Italien und Spanien seien dem besonderen Blick auf ein ohnehin marodes Gesundheitssystem geschuldet.

Auch nach der Einschätzung des leitenden Virologe der Uniklinik Bonn Professor Streeck könnte es sein, dass die Sterblichkeit nach Ende der Infektionswelle nicht höher als in den vergangenen Jahren liegen wird. Bei Stern TV sagt er: »Einige Experten zeichnen Horror-Szenarien, andere sehen es mit kühlem Kopf. Wäre uns das Virus nicht aufgefallen, hätte man vielleicht gesagt, wir haben dieses Jahr eine schwerere Grippewelle.«

Bei radio1 wurde die Virologin Frau Prof. Mölling interviewt, nicht ohne dass sich die Redaktion im Nachhinein zu einer Distanzierung genötigt fühlte. Mölling warnte auch bei Phönix vor Panikmache und hält die aktuellen Maßnahmen nicht für verhältnismäßig.

Der Gesundheitswissenschaftler Prof. Ioannidis von der Universität Stanford erklärt im US-amerikanischen Gesundheitsmagazin STAT, dass sowohl die Einschätzung zur Verbreitung des Virus, als auch die jetzt beschlossenen Gegenmaßnahmen nicht auf verlässlichen Daten und Evidenz fußen. Seiner Meinung nach haben wir uns mit dem Shutdown entschieden, von einer Klippe zu springen, ohne zu wissen, ob das eine rationale Handlung ist und ob wir sicher landen können.

Das EbM-Netzwerk stellt in einer aktuellen Stellungnahme fest: Es gibt insgesamt noch sehr wenig belastbare Evidenz – weder zu COVID-19 selbst, noch zur Effektivität der derzeit ergriffenen Maßnahmen. Auch die taz-Redakteurin aus dem Ressort Gesundheit äußerte sich in einen Artikel in der Zeitung ähnlich (taz.de/!5670966):

»Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen, Kontakt- und Arbeitsverbote: Es sind drastische Maßnahmen, mit denen die Bundesregierungim Kampf gegen die Coronapandemie die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger derzeit einschränkt. Aber welche Wirkungen, positiv wie negativ, haben diese sogenannten nicht-pharmakologischen Interventionen tatsächlich? Die Regierung weiß es nicht — und will es offenbar nicht wissen«, so Heike Haarhof in der taz.

Haarhof kritisiert, dass eine Begleitforschung von den zuständigen Gesundheits- und Forschungsministern abgelehnt wird, obwohl hier wichtige Erkenntnisse für die Bewältigung künftiger Krisen gesammelt werden können. Es wäre daher angebracht, wenn sich eine Linke, die Rationalität zur Grundlage hat, nicht in unsinnige Grabenkämpfe zwischen sogenannten »Coronaleugner*innen« und »Diktaturbefürworter*innen«, sondern die anstehenden Fragen auf Grund von Fakten und Argumenten diskutiert und entscheidet.


Der Autor Peter Nowak beschäftigt sich in seinen auf der Homepage (peter-nowak-journalist.de) dokumentierten Artikeln in letzter Zeit auch mit Biopolitik. Er schreibt journalistisch, politisch und wissenschaftlich für viele progressive Magazine und Tageszeitungen in der Bundesrepublik.




Dieser Text erschien in Ausgabe N° 1 am 16. Apr. 2020




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